"An Tagen wie diesen - wünscht man sich Unendlichkeit", besingen die Toten Hosen das Gefühl besonderer Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Und das gilt beileibe nicht nur in Fußballstadien. Es war der Samstag, 11. November 1989. Gebannt, ungläubig hatten wir sie am Fernseher zwei Tage zuvor den Mauerfall in Berlin verfolgt, diese skurrile Botschaft von Günter Schabowski - damals SED-Sekretär für Informationswesen, der in Ost-Berlin über sofortige "Privatreisen nach dem Ausland" berichtete - und zwar ohne "Vorliegen besonderer Voraussetzungen". Es dauerte ein Weilchen, bis wir begriffen, was das bedeutete. Aber als dann die Abgeordneten im Bonner Bundestag die Nationalhymne anstimmten, dämmerte es langsam: Die Grenze zur DDR wird tatsächlich geöffnet, statt Eiserner Vorhang erwartet uns ein neues Stück Unendlichkeit im deutschen Osten.
- Jörg Kleine, Chefredakteur
» Das Vorwort in voller Länge lesen «"An Tagen wie diesen - wünscht man sich Unendlichkeit", besingen die Toten Hosen das Gefühl besonderer Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Und das gilt beileibe nicht nur in Fußballstadien. Es war der Samstag, 11. November 1989. Gebannt, ungläubig hatten wir sie am Fernseher zwei Tage zuvor den Mauerfall in Berlin verfolgt, diese skurrile Botschaft von Günter Schabowski - damals SED-Sekretär für Informationswesen, der in Ost-Berlin über sofortige "Privatreisen nach dem Ausland" berichtete - und zwar ohne "Vorliegen besonderer Voraussetzungen". Es dauerte ein Weilchen, bis wir begriffen, was das bedeutete. Aber als dann die Abgeordneten im Bonner Bundestag die Nationalhymne anstimmten, dämmerte es langsam: Die Grenze zur DDR wird tatsächlich geöffnet, statt Eiserner Vorhang erwartet uns ein neues Stück Unendlichkeit im deutschen Osten.
Eine Woche darauf machten wir uns spontan von Nordhessen aus nach Berlin auf. Unterwegs verfolgten wir im Radio jede noch so kleine Information über das schier Unglaubliche. Von kleinen Grenzübergängen im Harz war plötzlich die Rede, also bogen wir auf der A7 Richtung Osten ab, um uns abends quer durch den Harz erstmals frei Schnauze auf unbekanntem Terrain der DDR nach Magdeburg und weiter nach Berlin durchzuschlagen. So der verwegene Plan.
Später dachte ich immer, wir seien bei Stapelburg über die Grenze gefahren. Aber es muss wohl doch bei Zorge gewesen sein, darauf jedenfalls weist ein Indiz hin, das bis heute in meinem Kopf festgebrannt ist: Kurz nach dem Stacheldraht kehrten wir in einem Gasthof "Schwarzer Adler" ein, und einen solchen gibt es bis heute in Ellrich. Ich parkte meinen roten Golf vor der Tür, und wir betraten zu viert frohgemut und voller jugendlichem Elan die Kneipe. An der Theke saßen einige Gäste, schauten uns wie die Wirtin ein wenig verdutzt an, doch alles andere lief scheinbar normal. Wir bestellten ein Bier und etwas zu essen. Dann legten wir als passionierte Doppelkopf-Spieler die Karten auf den Tisch und teilten aus. Wir hatten ja Zeit - und dieses Gefühl von Unendlichkeit.
Die Wirtin allerdings schöpfte Verdacht und verwies uns freundlich, aber bestimmt hinter einen Schiebevorhang in den leeren Nachbarraum: "Glücksspiel ist hier nicht erlaubt", fügte sie vielsagend hinzu. Wir sahen uns etwas feixend an, aßen und tranken, spielten ein paar Runden, zahlten mit D-Mark - und fuhren weiter in die Nacht hinaus Richtung Magdeburg.
Ein weiteres Bild, das mir von der spannendsten Deutschland-Tour bis heute im Gedächtnis haften geblieben ist, sind die mächtigen Mietshäuser am Stadtrand von Magdeburg, deren Fenster einheitlich im fahlen Violett von Schwarzlichtlampen leuchteten. Dann bogen wir ab auf die bekannte Autobahn Richtung Berlin, die "Transitstrecke", die uns bis dahin das ganze Leben lang einen der wenigen Wege in die geteilte deutsche Stadt geebnet hatte. Wir sprühten vor Entdeckungsfreude, lachten, diskutierten: Wird sie bald kommen, die nie für möglich gehaltene deutsche Einheit?
Wenige Wochen später fuhren wir abermals nach Berlin, um die bedeutendste Silvesterparty aller Zeiten zu feiern. Als der US-amerikanische Sänger David Hasselhoff im Korb eines Teleskopkrans über der Mauer schwebte und sein "Looking For Freedom" schmetterte, rannen uns Freudentränen über die Wangen.
Plötzlich öffneten Ost-Polizisten die Mauer am Brandenburger Tor, von Westen strömten die Menschen hindurch, getragen vom historischen Moment. Manche kletterten an den Blitzableitern zur Quadriga empor, andere entzündeten Hunderte von Friedenslichtern, welche die Säulen säumten - und wir lagen uns mit unbekannten Menschen in den Armen. West, Ost? Völlig egal.
30 Jahre ist das nun her, aber bis heute habe ich diese Bilder vor Augen und spüre dieses Gefühl von Unendlichkeit, an jedem 9. November und an jedem Silvesterabend aufs Neue. Wir sollten wieder mehr drüber reden, über Einheit, Freiheit und das Ende von Diktatur. Am besten gleich heute - an Tagen wie diesen.
Jörg Kleine, Chefredakteur
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Samstagmittag kommen mehrere hundert Bundesbürger zum Deutschlandhaus auf der Westseite der Grenze. Zwei junge DDR-Bürger klettern über den Grenzzaun und überqueren die Ecker. Sie berichten, dass auch auf der Ostseite 50 bis 100 Menschen warten. Dann klettern sie zurück. Laut Zeitungsartikeln von 1989 berichtet der Privatsender Radio ffn, die Grenze bei Stapelburg werde um 15 Uhr geöffnet. Die Menschen auf beiden Seiten setzen sich in Bewegung und strömen zur Grenze. DDR-Grenztruppen wiegeln jedoch ab: Eine Grenzöffnung sei technisch nicht möglich.
Samstagmittag kommen mehrere hundert Bundesbürger zum Deutschlandhaus auf der Westseite der Grenze. Zwei junge DDR-Bürger klettern über den Grenzzaun und überqueren die Ecker. Sie berichten, dass auch auf der Ostseite 50 bis 100 Menschen warten. Dann klettern sie zurück. Laut Zeitungsartikeln von 1989 berichtet der Privatsender Radio ffn, die Grenze bei Stapelburg werde um 15 Uhr geöffnet. Die Menschen auf beiden Seiten setzen sich in Bewegung und strömen zur Grenze. DDR-Grenztruppen wiegeln jedoch ab: Eine Grenzöffnung sei technisch nicht möglich.
Der Druck auf die Grenzer wird immer größer. Als schließlich Offizielle aus dem Ort Kontakt mit vorgesetzten Stellen aufnehmen, gibt es Grünes Licht für eine kurzfristige Einrichtung eines Übergangs für Fußgänger und Fahrradfahrer. Jetzt kommt Bewegung in die Sache: Zäune werden aufgekniffen, Gräben zugeschüttet, und vor den Augen der „Grenzer“ und mittlerweile Hunderter Zivilisten klettert ein Stapelburger auf jene Blechwand, die das letzte künstliche Hindernis auf dem Weg von Ost nach West und zugleich noch Sichtschutz ist. Als gegen 16 Uhr das erste Element demontiert ist, gibt es kein Halten mehr: Durch eine schmale Öffnung bahnt sich ein Strom von Menschen seinen Weg nach „drüben“.
Samstag war die Grenze in beide Richtungen geöffnet. Westbürger spazierten nach Stapelburg, erst ohne Ausweise, gegen Abend nach Vorzeigen des Personalausweises. Ab Sonntagfrüh hieß es dann wieder: Nur mit Visum von West nach Ost. "Bis zum Sonntagabend überquerten vermutlich 50.000 bis 70.000 Menschen die innerdeutsche Grenze bei Bad Harzburg", schrieb die Goslarsche Zeitung am 13. November 1989. Um 13.45 Uhr rollte der erste Wartburg über die Grenze. Für die Wagen war im Laufe des Sonntags eine Straße aufgeschüttet worden.
Eigentlich hätte der seinerzeit 43-jährige Werner Simon, Polizeihauptmeister beim Bundesgrenzschutz, am 11. November 1989 frei gehabt. Doch einem Kollegen zuliebe übernahm er den Dienst als Streifenführer. Beim BGS war man zwar angesichts der Tatsache, dass kurz zuvor in Helmstedt und Berlin die deutsch-deutsche Grenze gefallen war, in Alarmbereitschaft.
Simon und seine drei Kollegen streifen also durch ihren Abschnitt, der von Lochtum bis zur Eckertalsperre reichte. Da erreichte sie der Funkspruch ihrer Dienststelle in Goslar: Bad Harzburgs Bürgermeister Klaus Homann hatte sich aus Eckertal gemeldet. Dort sei was im Busche. Simon und seine Streife fuhren hin und sahen die riesige Menschenmenge am Zaun stehen. Simons erste besonnene Handlung: Er wies seine Kollegen an, die Maschinenpistolen, die die Grenzstreifen immer mit sich führten, im Wagen zu lassen. Nur niemanden provozieren. Ein Mann blieb zur Bewachsung und für den Funk.
Und nun? Auf vieles war der BGS vorbereitet, „doch für einen solchen Fall hatten wir kein Drehbuch“, sagt Simon. Er improvisierte, verschaffte sich so gut es ging einen Überblick, hielt die Leute von der Brücke fern, weil man ja nicht wusste, wie stabil das alte Ding war.
Plötzlich standen zwei DDR-Bürger hinter ihm. Sie waren über den Zaun geklettert. Quasi eine Vorhut. Vielleicht auch ein kleiner Spionageakt? Eigentlich hätte Simon nach Dienstvorschrift handeln müssen, Personalien aufnehmen und, und, und.
Stattdessen sprach er die beiden Männer freundlich an, fragte, ob sie im Westen bleiben wollen. Nein, die beiden gingen wieder zurück. Da hatte Simon plötzlich die Menschenmenge im Westen gegen sich aufgebracht. Man glaubte, der BGS-Mann hätte zwei arme Flüchtende wieder in den bösen Osten zurückgejagt. Als Vermittler sprang Pastor Klaus Pieper aus Bettingerode ihm zur Seite.
Und dann kam der Moment, den Werner Simon und alle anderen, die dabei waren, im Leben nicht vergessen werden: 15.45 Uhr war es, als Peter Röhling und Norbert Heindorf den Zaun von Ostseite her erklommen und auseinanderschraubten. Was geht da in einem Grenzschützen vor? „Ich habe mich gewundert, dass die das einfach so aufschrauben durften,“ sagt Simon heute lapidar und allein dieser Satz zeigt, wie besonnen und sachlich der Mann bei der Sache war. Angst? „Nein, zu keiner Sekunde.“ Er hatte auch gar keine Zeit dafür. Denn plötzlich stürmen die Menschenmassen in den Westen. Längst hatte Werner Simon da seine Dienststelle informiert, die Verstärkung schickte. Nun übernahmen andere.
Menschenmassen versammelten sich an der Grenze. Heute ist der Metallzaun verschwunden.
Eigentlich waren Röhling (damals 24) und Heindorf (damals 41) an diesem Tag damit beschäftigt, das Röhlingsche Haus in Stapelburg herzurichten. Da kam Röhlings Frau Kathrin herein und erzählte, im (West)-Radio würden sie durchsagen, dass die Grenze nun auch in ihrem Dorf aufgemacht werden würde. Noch heute weiß übrigens niemand, wie diese Radiomeldung zustande kam, Röhling hat Jahre später versucht, beim Sender nachzuforschen, das blieb aber ergebnislos.
Doch zurück ins Jahr 1989. Die beiden Männer fuhren an die Grenze. Der Schlagbaum der 500-Meter-Zone war zu, aber Heindorf hatte einen Passierschein und durfte durch. Sie postierten sich vor dem Grenzzaun und warteten. Immer mehr Menschen kamen, die Stimmung war irgendwie locker und doch angespannt. Zwei Soldaten der DDR-Grenztruppen standen mit ihren Maschinenpistolen Wache, niemand wusste, wie sie reagieren würden. Aber die Atmosphäre dieser Tage machte die Menschen mutig: „Wir haben mit den Grenzern gesprochen, rumgeflachst, gelästert“, erzählt Röhling: „Mensch, komm, macht auf…“ Das hätte man sich wenige Tage vorher nie und nimmer getraut.
Doch die Grenzer ließen sich nicht erweichen. Irgendwann kamen eine Delegation des Landkreises und einige Offiziere. Nein, man könne die Grenze nicht aufmachen, erklärten die, auf der anderen Seite im Westen sei die Brücke baufällig. Heindorf und Röhling schmunzeln da heute noch. Denn für sie und alle anderen DDR-Bürger hörte damals am Zaun die Welt auf. Kein Mensch wusste wirklich, was auf der anderen Seite war.
Die Menge ließ die Ausrede mit der Brücke nicht gelten. Da kam die Nächste: „Wir haben gar kein Werkzeug.“ Es schlug die Stunde von Röhling und Heindorf. Sie holten einen 13er- und einen 17er-Schlüssel und eine Kombizange aus Röhlings Trabi. Ein Trabantfahrer hatte immer Werkzeug dabei. Röhling half Heindorf per Räuberleiter auf die drei Meter hohe Zaun-Konstruktion. Schrauben konnte man nämlich nur, wenn man beide Seiten packte. Röhling hielt mit der Zange die Muttern im Osten fest, Heindorf schraubte im Westen aus. Angst? Irgendwie schon, noch immer wusste niemand wie die Grenzer reagieren würden.
Dann war das erste Stück des Zaunes gelöst und konnte beiseite gestellt werden – der Eiserne Vorhang war offen. Röhling und Heindorf schauten angespannt und auch ein wenig ängstlich durch. Ein Bild, das in den vergangenen 25 Jahren dutzendfach veröffentlicht wurde. Und nun? An Flucht dachte keiner der beiden, „wir wollten nur mal gucken“.
Keine Straße. Die Brücke marode, seit Jahrzehnten nicht benutzt. Der Grenzstreifen bis zu einer Tiefe von 50 Metern mit Büschen und Bäumen verwuchert und der Erdboden verschlammt. Dahinter Metallstreckzaun und Betonmauer. Doch an diesen Samstagnachmittag kurz vor 16 Uhr durchbrachen die Menschen den Eisernen Vorhang in Stapelburg, überwanden alle Hindernisse und schufen sich „ihren“ Grenzübergang.
Der sah völlig anders aus, als ihn ein halbes Jahr zuvor der niedersächsische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Heinrich Jürgens (FDP), mit dem stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden der DDR, Manfred Gerlach, in Verhandlungen für das Jahr drauf für Stapelburg/Eckertal vereinbart hatten. Statt eines Übergangs mit Abfertigungshäusern und Schlagbäumen gab es jetzt zwei Holzbalken, die, quer über die Ecker geworfen, Männern, Frauen, Kinder zu Hunderten den Weg von Ost nach West eröffneten. Sie balancierten voller Freude über das Provisorium.
Fußgänger durchquerten das 500-Meter-Sperrgebiet. Menschen fielen sich in die Arme und weinten vor Freude. Metallplatten wurden vom Grenzzaun abgeschraubt, ein Graben mit Erde zugeschoben. Die alte Eckertalbrücke wurde jedoch nicht freigegeben. Sie war teilweise verrottet und bei großer Belastung einsturzgefährdet. Koordiniert vom Landkreis machten Bundesgrenzschutz, Technisches Hilfswerk und Feuerwehr die seit 40 Jahren nicht mehr befahrene Eckerbrücke innerhalb weniger Stunden in einer nächtlichen Aktion wieder passierbar – mittels dicker Stahlträger.
Samstag war die Grenze in beide Richtungen geöffnet. Westbürger spazierten nach Stapelburg, erst ohne Ausweise, gegen Abend nach Vorzeigen des Personalausweises. Ab Sonntagfrüh hieß es dann wieder: Nur mit Visum von West nach Ost. "Bis zum Sonntagabend überquerten vermutlich 50.000 bis 70.000 Menschen die innerdeutsche Grenze bei Bad Harzburg", schrieb die Goslarsche Zeitung am 13. November 1989. Um 13.45 Uhr rollte der erste Wartburg über die Grenze. Für die Wagen war im Laufe des Sonntags eine Straße aufgeschüttet worden.
Die Brücke von 1989 steht heute nicht mehr, dafür etwas versetzt eine neue. Fotos: Schlegel/Sowa
Am Sonntag, 12.11.1989 wurde eine Straße aufgeschüttet. Heute ist sie asphaltiert. Fotos: Seltmann/Sowa
Es geht herüber und hinüber. Ost und West sind in diesen Nachmittags-, Abend-, Nachtstunden eins, eins in einem Volksfesttaumel von Zehntausenden von Menschen. Gegen 23 Uhr sind die Biervorräte im Stapelburger Kulturhaus leer getrunken.
Im Eckerkrug fließt das Bier noch. Bad Harzburgs Bürgermeister „Jockel“ Homann steht im Gastraum persönlich hinter dem Tresen und zapft. Bad Harzburgs Stadtdirektor Horst Voigt hat im Hinterzimmer des Gasthauses derweil seine Kommandozentrale eingerichtet. Von hier aus organisiert er Omnibusse, Begrüßungsgeldzahlungen im Rathaus und Unterbringungsmöglichkeiten für Ostdeutsche, denen eine Bleibe fehlt.
Für Hilmar Rasche, Bürgermeister von Stapelburg, galt es am 11. November 1989, die Geburtstagsfeier seiner 80-jährigen Mutter im Schützenhaus Stapelburg zu organisieren. Rund 70 Gäste waren eingeladen.
Beim gemeinsamen Mittagsessen wunderte sich Rasche schon ein wenig, dass so viele Autos im Ort parkten. Als der heute 66-Jährige gegen 15 Uhr von einem kleinen Spaziergang wieder kam, traute er seinen Augen nicht. „Plötzlich war die Bude schlagartig leer“, erzählt Rasche.
Der Großteil der Festgesellschaft war zum Grenzübergang gegangen und wartete darauf, dass die Grenze geöffnet wurde. Gegen 16.30 Uhr war es dann so weit, der erste Grenzübergang zwischen der DDR und BRD wurde errichtet, die Menschen feierten, und Rasche und seine Mutter waren immer noch im Schützenhaus. Gegen 18 Uhr kamen nach und nach die Gäste zurück, und es wurde weiter gefeiert.
Um 20 Uhr betraten plötzlich zwei Anzugsträger den Festsaal und kurz darauf ein dritter, der sich als Ernst Albrecht, Ministerpräsident von Niedersachsen vorstellte. Rasche erzählte ihm, dass seine Mutter Geburtstag habe, und Albrecht gratulierte brav und unterhielt sich lange mit dem Geburtstagskind.
Die Einladung zum Essen nahm der Ministerpräsident dankend an. Das Schützenhaus platzte langsam aus allen Nähten, weil immer mehr „BRD-Bürger“ einfach mal „Hallo“ sagen wollten. „Da hat sich dann jeder selbst bedient, aber das hat uns nichts ausgemacht“, berichtet Rasche. Albrecht verabschiedete sich und bedankte sich für die Gastfreundlichkeit.
Die nächsten Jahre bekam Mutter Rasche zu jedem Geburtstag eine Glückwunschkarte. Zu ihrem 90. Geburtstag lag jedoch keine im Briefkasten. Etwas enttäuscht ging die Seniorin mit ihrem Sohn zu ihrer Feier ins Schützenhaus. Da dann die Überraschung: Ernst Albrecht höchstpersönlich gratulierte der 90-Jährigen zum Geburtstag und feierte mit der Geburtstagsgesellschaft ausgelassen mit.
Wenige Stunden nach Grenzöffnung wurde durch die KVG ein Buspendelverkehr eingerichtet zwischen Eckertal und Harzburg. Am Samstagnachmittag öffneten die Geschäfte. Die Straßen in Bad Harzburg und Goslar waren voll, die Geschäfte leer. Als der Ansturm der DDR-Bürger kurz nach Fall des Grenzzauns auf die westdeutschen Innenstädte ansetzte, war der Konsumbedarf verständlicherweise groß. Doch dazu brauchte es erst einmal Geld. Zwei ehemaliger Banker erinnern sich.
„Die Euphorie war unbeschreiblich“, sagt Peter Weihe. Der Bankdirektor, der Vorstandsmitglied der damaligen Volksbank Goslar war, erinnert sich sehr lebhaft an die entscheidenden Stunden des 11. November 1989 und deren Folgen.
Weihe setzte an diesem Samstag alle Hebel in Bewegung, um spätestens am Sonntag die DDR-Bürger, die bis nach Goslar kamen, mit Begrüßungsgeld versorgen zu können. „Henning Binnewies sorgte mit den Landkreis-Mitarbeitern für das Personal, und wir von der Volksbank lieferten das Geld“, erinnert sich Weihe. Binnewies war damals Kreisdezernent.
„In unserem Tresor lagen vielleicht 400.000 bis 500.000 D-Mark, die waren ruckzuck alle“, so der einstige Bankdirektor. Also nutzte er seinen kurzen Draht zur zuständigen Landeszentralbank, die damals noch in Goslar in der Klubgartenstraße residierte. Von dort aus war es nur ein kurzer Weg einmal über die Straße in die damalige Kreisverwaltung, wo an zehn provisorischen Abfertigungsplätzen die 100 D-Mark Begrüßungsgeld ausgezahlt wurden. Nicht kurz war hingegen die Warteschlange, die laut Weihe bis zum Bahnhof reichte.
Ähnlich die Bilder in Bad Harzburg. „Die Schlangen teilten sich etwa in der Höhe des Werner-von-Siemens-Gymnasiums“, erinnert sich Jürgen Werner an Menschenmassen. Der damalige Bankprokurist und spätere Bankabteilungsdirektor der Nord/LB in Bad Harzburg half mit, als sein Geldinstitut die Stadt bei der Auszahlung des Begrüßungsgeldes unterstützte. Der eine Teil der Schlange stand auf der Herzog-Wilhelm-Straße in Richtung Rathaus gewandt, der andere in Richtung Nord/LB am Bahnhof.
Um zu kontrollieren, dass das Geld nicht doppelt ausgezahlt wurde, so der 70-Jährige Bad Harzburger, hätte es Listen gegeben. Doch das habe sich nicht bewährt. Also bekam jeder, der Geld erhalten hatte, einen Stempel in den Ausweis.
Der Geldnachschub aus der zuständigen Landeszentralbank in Braunschweig gestaltete sich indes schwierig. Die Transport- fahrzeuge kamen kaum durch die Menschenmassen, also musste sogar ein Hubschrauber eingesetzt werden. Der Andrang war enorm. Sogar die Toilettenanlagen in der Bank hätten versagt. Immerhin wurde es mit der Zeit leichter, an Geld zu kommen. „Unsere Kassierer gingen in den gegenüberliegenden Minimal-Markt und holten das dort ausgegebene Geld ab, um es gleich wieder an die Nächsten auszuzahlen“, erinnert sich Werner an den Geldkreislauf auf engstem Raum.
Rund 3 Millionen D-Mark Begrüßungsgeld hat die Stadtverwaltung Bad Harzburg an den ersten beiden Tagen nach der Grenzöffnung bei Eckertal an DDR-Bürger ausgezahlt. Jeder von ihnen erhielt beim Besuch im Westen 100 D-Mark – dass macht rund 30.000 Auszahlungen, sprich 30.000 Menschen, die ihr Geld an nur einem Wochenende in Bad Harzburg in Empfang genommen haben.
Aus heutiger Sicht ist es eine logistische Meisterleistung, die von der Stadtverwaltung nach dem Fall der Mauer quasi aus dem Hut gezaubert werden musste. Als Leiter des Amtes für Soziale Dienste war Rolf Meyer damals für die Auszahlung des Besuchergeldes zuständig. Der Strom der Menschen riss nicht mehr ab, erinnert er sich. Sie warteten in Vierer- und Fünferreihen.
Das DRK verteilte vor dem Rathaus Suppe und heiße Getränke. Währenddessen drinnen rund 80 Mitarbeiter mit der Auszahlung des Geldes beschäftigt waren. Es wurde in Schichten bis zum nächsten Tag durchgearbeitet, doch an Schlaf sei in dieser Nacht ohnehin nicht zu denken gewesen, so Meyer.
Die tausenden Besucher stellten die Verwaltungsmitarbeiter bald vor neue Probleme. Einige von ihnen nutzten das Rathaus zum Übernachten. „Sie lagen, übermüdet und überwältigt, in den Fluren und im Treppenhaus und schliefen“, schildert Rolf Meyer den historischen Ausnahmezustand. Viele Familien kamen mit Kleinkindern und Babys, die irgendwo versorgt werden mussten. Kurzerhand wurde die Garderobe des Ratssaals zum Wickelraum umfunktioniert, die passenden Tische hatten Verwaltungsmitarbeiterinnen von zu Hause mitgebracht. Die Teeküchen wurden zu Milchwärmküchen, aus den Drogerien vor Ort wurden kistenweise Milchpulver und Windeln ins Rathaus geliefert.
In Bad Harzburg verursachte die Reisewelle ein Verkehrschaos mit Blechkolonnen bis nach Goslar. Schon am 20. März 1990 passierte der einmillionste Personenwagen den Grenzübergang zwischen Eckertal und Stapelburg. Der Grenzübergang im Vorharz war schnell zu einem der beliebtesten geworden. Erst durch die Umgehungsstraße kehrte später wieder Ruhe ein.
Der Grenzübergang Walkenried wird für den Bahn- und Fußgängerverkehr am Sonntag geöffnet. Trabischlangen bilden sich hingegen bei Zorge: Dort wird der Übergang Ellrich/DDR für den Autoverkehr freigegeben. Bis Mittag kommen 1300 Autos an.
Der Grenzübergang Walkenried wird für den Bahn- und Fußgängerverkehr am Sonntag geöffnet. Trabischlangen bilden sich hingegen bei Zorge: Dort wird der Übergang Ellrich/DDR für den Autoverkehr freigegeben. Bis Mittag kommen 1300 Autos an.
Entlang der Straße reichten Bundesbürger Bananen, Äpfel und Süßigkeiten in die Fahrzeuge. Im Laufe des Tages kamen nach Angaben des Bundesgrenzschutzes 20.000 DDR-Bürger über den provisorischen Übergang. In Sonderbussen wurden sie nach Zorge und Walkenried transportiert und dort mit Tee, Kaffee, Stadtplänen und Karten der Westharzorte versorgt.
Die Bahnlinie Northeim-Nordhausen über Walkenried und Ellrich wird für den Personenverkehr freigegeben. Um 9:05 Uhr trifft der erste Zug aus Ellrich in Walkenried ein, der erste Zug des deutsch-deutschen Pendelverkehrs seit 40 Jahren. In der Zeitung von 1989 hieß es noch, er sei um 8 Uhr eingetroffen. In drei Triebwagen erreichten rund 400 Personen den Bahnhof. „Mit Musik vom Spielmannszug hießen die jubelnden Bewohner des Südharzortes die DDR-Bürger willkommen."
Um 14.10 Uhr rund vier Kilometer vom Ort entfernt geöffnet - Augenzeugen nach kletterten zwei Grenzsoldaten über den Zaun und begannen, ihn abzumontieren - lautet die Anweisung gegen 20 Uhr bereits wieder: „Grenze zu." DDR-Bürger werden aber bis 23 Uhr zurück in den Osten gelassen. Zuvor wird ausgelassen gefeiert.
Um 14.10 Uhr rund vier Kilometer vom Ort entfernt geöffnet - Augenzeugen nach kletterten zwei Grenzsoldaten über den Zaun und begannen, ihn abzumontieren - lautet die Anweisung gegen 20 Uhr bereits wieder: „Grenze zu." DDR-Bürger werden aber bis 23 Uhr zurück in den Osten gelassen. Zuvor wird ausgelassen gefeiert.
Rund 6000 DDR-Bürger kamen in den ersten zwei Stunden über die Grenze. Ein Pendelbusverkehr brachte sie von dort nach Hohegeiß. Die Geschäfte im Ort öffneten ihre Türen und etwa 300.000 D-Mark Begrüßungsgeld wurden ausgezahlt, etwa in der Kurverwaltung und der Volksbank (Fotos: Beckmann/Sowa).
Zwei Offiziere der DDR-Grenztruppen öffnen den Drahtgitterzaun in Braunlage, in der Elender Straße. Laut Augenzeugenberichten teilen sie mit, das Außenministerium der DDR habe die Genehmigung erteilt. Mit Hilfe von Braunlager Passanten wird ein Brückenteil des Bundesgrenzschutzes über den Bach Bremke gelegt.
Zwei Offiziere der DDR-Grenztruppen öffnen den Drahtgitterzaun in Braunlage, in der Elender Straße. Laut Augenzeugenberichten teilen sie mit, das Außenministerium der DDR habe die Genehmigung erteilt. Mit Hilfe von Braunlager Passanten wird ein Brückenteil des Bundesgrenzschutzes über den Bach Bremke gelegt.
Mehrere hundert DDR-Bürger, die schon seit Stunden hinter der Grenze gewartet hatten, wanderten nach Braunlage. Die GZ schrieb am 13. November 1989: „Halb Braunlage besuchte im Gegenzug den sechs Kilometer entfernten DDR-Ort Elend." Am Sonntag überquerten noch etwa 8000 DDR-Bürger und mehrere hundert Braunlager die Grenze, bevor die Lücke im Zaun am Montag um 4 Uhr offiziell geschlossen wurde.
In der GZ vom 14. November war zu lesen: „»Es sind keine Tendenzen erkennbar, dass die Übergänge Braunlage/Elend und Hohegeiß/Rothesütte wieder geöffnet werden«, teilte gestern Mittag noch der Bundesgrenzschutz auf Anfrage mit. »Aber die Lage kann sich von Stunde zu Stunde ändern.« Dann überschlugen sich die Ereignisse." Gegen 15.20 Uhr besichtigten nämlich drei Angehörige der DDR-Grenztruppen die Bremke. Dienstagmorgen um 8 Uhr sollte die Brücke über den Zufluss der Warmen Bode stehen.
Etwa 12.000 DDR-Büger passieren am Wochenende den Übergang Benneckenstein/Hohegeiß. Dabei sollte die Grenze eigentlich erst zwei Stunden später geöffnet werden.
Etwa 12.000 DDR-Büger passieren am Wochenende den Übergang Benneckenstein/Hohegeiß. Dabei sollte die Grenze eigentlich erst zwei Stunden später geöffnet werden.
In der Wochenendausgabe vom 18./19. November berichtet die GZ noch, die Ankündigung zur Grenzöffnung sei eine Falschmeldung gewesen: „Von Mitarbeitern des Kreises Wernigerode hieß es, dass die gestern in der DDR-Zeitung 'Volksstimme' veröffentlichte Meldung falsch sei, wonach der Übergang von Benneckenstein nach Hohegeiß am Samstag bereits um 6 Uhr und für Autos geöffnet werde. Es bleibe zunächst bei einer Passierstelle für Fußgänger und Radfahrer, die ab 8 Uhr freigegeben werde." Trotzdem wurden die Menschen ab 6 Uhr durchgelassen, die wegen der Falschmeldung schon vor der Grenze standen. Zwölf DDR-Bürger durften sogar bereits kurz nach Mitternacht die Grenze überschreiten, denn sie hatten eine lange Reise hinter sich.
Am Vormittag brechen etwa 1000 Menschen von Ilsenburg und Schierke im Ostharz aus zu einer Sternwanderung in Richtung Brockenplateau auf. Immer mehr Wanderer schließen sich der Gruppe an, die gegen Mittag den letzten Sperrzaun erreicht. Kurz vor 13 Uhr wird das Tor zu den bislang hermetisch abgeriegelten Militäranlagen auf dem Gipfel des Berges schließlich geöffnet. Nur die Hochsicherheitsbereiche der Sowjets blieben geschlossen.
Am Vormittag brechen etwa 1000 Menschen von Ilsenburg und Schierke im Ostharz aus zu einer Sternwanderung in Richtung Brockenplateau auf. Immer mehr Wanderer schließen sich der Gruppe an, die gegen Mittag den letzten Sperrzaun erreicht. Kurz vor 13 Uhr wird das Tor zu den bislang hermetisch abgeriegelten Militäranlagen auf dem Gipfel des Berges schließlich geöffnet. Nur die Hochsicherheitsbereiche der Sowjets blieben geschlossen.
Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 war der Brocken für DDR-Bürger mit Sonderpassierschein zugänglich. Allein die Brockenbahn transportierte 1957 mehr als 154 000 Menschen auf den Brocken. Das waren damals ausschließlich Einwohner der DDR, für Westdeutsche war der Brocken mit dem Ausbau der Sektorengrenze als Staatsgrenze spätestens seit 1948 nicht mehr erreichbar. Die Grenze verlief unmittelbar unterhalb der Brockenkuppe zwischen dem Gipfel und Torfhaus.
Nach der Schließung wurde der Brocken für die Geheimdienste um- und ausgebaut. Der Staatssicherheitsdienst der DDR hatte dort seinen wichtigsten Stützpunkt an der innerdeutschen Grenze, über den ein Großteil der Kommunikation mit den westlichen Spionen verlief. Seit 1947 waren russische Streitkräfte auf dem Brocken stationiert. Nach dem Mauerbau wurde die Spionageeinheit auf 100 Mann verstärkt und der Stützpunkt zum wichtigsten Spionageberg des Warschauer Paktes in Westeuropa ausgebaut. Wegen der exponierten Lage konnten die Russen von dort aus sämtliche Militärbewegungen in nahezu allen Teilen Westeuropas überwachen.
Zum Schutz der Spionage-Anlagen wurde ab 1978 die Brockenmauer errichtet. Der Zugang zum Brocken war seit dem 13. August 1961 ohnehin gesperrt und nur mit einer speziellen Berechtigung konnten die auf dem Berg arbeitenden Menschen die Verbotszone betreten. Die Brockenmauer umfasste die komplette Brockenkuppe und hatte eine Länge von 1,54 Kilometern.
Das war vor dem 3. Dezember 1989. Obwohl die Mauern und Zäune in der DDR längst gefallen waren, dauerte es drei Wochen, bis das Neue Forum zu einer Demonstration für einen freien Brocken aufrief. Am 3. Dezember wanderten also tausende Menschen zum Gipfel.
Vor dem Tor der Brockenmauer wurde die Menschenmenge immer größer und wurden die Protestrufe immer lauter. So laut, dass der glücklicherweise unbewaffnete diensthabende Major das Tor um 12.45 Uhr öffnen musste. Ansonsten hätten die Demonstranten die Anlage gestürmt.
Wie die GZ damals berichtete erschien ein Mitglied des Bergunfalldienstes vom Roten Kreuz und verkündete der wartenden Menge: „Das Tor wird geöffnet." Er erklärte weiter, dass nur zehn Angehörige der Grenztruppen anwesend seien, die unbewaffnet aus ihren Unterkünften kommen und mithelfen wollen, für einen geordneten Aufenthalt der vielen unerwarteten Besucher zu sorgen.
Der Zug der Wanderer verteilte sich schnell auf der Brockenkuppe. Nach 28 Jahren konnte die Brockenkuppe das erste Mal wieder frei betreten werden. Bei herausragender Fernsicht, bei milden Temperaturen und herrlichstem Sonnenschein entwickelte sich schnell Volksfeststimmung. „Tausende von DDR- und auch Bundesbürgern feierten auf dem Plateau ein Volksfest", schrieb die GZ am 4. Dezember.
Von da an hielt der Besucherstrom an: Jedes Jahr wandern und reisen mehr als zwei Millionen Menschen auf den Brocken. Zu Fuß, mit dem Zug oder per Rad. Für die Harzer ist der 3. Dezember 1989 der wichtigste Gedenktag. Dass dieser Tag in den Medien nur als Randnotiz erschien, lag einzig daran, dass am selben Tag das Politbüro der DDR zurück getreten ist.
20 Jahre deutsche Einheit liegen zwischen diesen Aufnahmen von Hansjörg Hörseljau. Der Fotograf stand 1989 noch vor der Sperrmauer 1989. 2009 hatte er dann freien Blick auf die Brockenkuppe.
Wie viele andere Menschen nutzten auch Joachim Stuffel und seine damalige Freundin Ute Mattern bald nach der Öffnung der Brockenmauer die Möglichkeit zum Aufstieg. Am 23. Dezember 1989 wanderten sie von Schierke aus auf den Brocken. „Uns war gar nicht so recht bewusst, wie weit es bis zur Brockenkuppe war", sagt Stuffel heute. „Der Weg zog sich hin und langsam begann es zu dämmern. Wir waren nur leicht bekleidet." Kurz vor der Brockenkuppe bei den Krüppelfichten begann es dann auch noch zu schneien. „Es war unheimlich, kalt und sehr nebelig. Kein Mensch weit und breit." Schließlich sahen die erschöpften Wanderer endlich ein Licht. Die Grenzer erzählten Stuffel und seiner Begleiterin, die seien an diesem Tag die genau 1142. Besucher auf dem Brocken, was der Höhe des Brockens in Metern entspricht. Als Belohnung für den Aufstieg - und damit sich das Duo aufwärmen konnte - reichten die freundlichen Grenzer ihnen Tee.
Wenige Monate später, kurz vor Abriss der Brockenmauer, bestiegen Joachim Stuffel und seine Freundin erneut den Brocken. Es war der 7. April 1990. Diesmal sollten sie nicht so gute Erfahrungen mit den Angehörigen der Grenztruppen machen. Im Wald kamen sie an ein helles Holzhäuschen, erinnert sich Stuffel. Nahe dem Grenzwärterhäuschen saß ein bewaffneter Grenzer. Er erhob sich, als Ute Mattern und Joachim Stuffel näher kamen, und verlangte nach ihren Ausweisen. „Der Anblick der Waffe ließ meine Halsschlagader anschwellen", erzählt Stuffel.
„»Ok«, sagte ich zu dem Waffenmann, »Sie können in meinen Ausweis sehen. Aber mal ehrlich, ob Sie da reinschauen oder ob Sie da drüben in den Wald schauen, das kommt doch auf dasselbe raus. Sie haben hier weder ein Fahndungsbuch noch ein Telefon oder sonst etwas, woran Sie erkennen können, ob ich ein Verbrecher bin oder nicht.«“ Der Grenzbeamte blieb eisern. Die beiden gerieten in eine Diskussion, die immer lauter wurde.
Der Zöllner kam hinzu. Stuffel erinnert sich an dessen Worte: „Ich werde Ihnen mal sagen, wofür wir noch hier sind. Nun zeigen Sie mir mal, was Sie in den Jackentaschen haben, Zollkontrolle!“ Und als Stuffel seine Taschen leerte, blitzten die Augen des Zöllners. Er hatte noch 100 Ostmark dabei, die sofort konfisziert wurden. „Schade, dass damals keiner mein blödes Gesicht fotografiert hat. An das Geld hatte ich gar nicht gedacht", so Stuffel. Den „Einziehungs -Entscheid“ hat er noch heute. „Die DDRler bekamen ja damals im Westen 100 DM Begrüßungsgeld, und mir nahmen die Grenzer 100 Ostmark ab", resümiert er.
Als das Paar am Abend vom Brocken zurückkam, wollte Stuffel nicht noch einmal an dem Grenzposten vorbei. „Und tatsächlich", erzählt er, „nur ein kurzes Stück oberhalb der Grenzstelle, gab es eine Klappe im Zaun durch die man einfach durchsteigen konnte. Und schon waren wir drüben ohne die geringste Kontrolle!"
Der Zwangsumtausch beziehungsweise Mindestumtausch wird abgeschafft. Bereits um 21 Uhr, Stunden vor der offiziell vereinbarten Stunde X, beginnt im Harz diese Reisefreiheit. DDR-Bürger begrüßen Autoschlangen aus der Bundesrepublik in Stapelburg.
Tag der offiziellen Grenzöffnung. Um 8 Uhr zerschneiden die Bürgermeister von Lochtum und Abbenrode das noch trennende Band an der Eckerbrücke. Bereits am 24.12. kam es zur unkontrollierten Grenzöffnung. An allen Weihnachtstagen wurde das Tor jeweils für einige Stunden für Fußgänger geöffnet.
Die Grenzöffnung wird vom Glockengeläut beider Wiedelaher Kirchen begleitet. Außerdem erklimmt die Rentnerin Emma Tuckermann den baufälligen Kirchturm in Wülperode und läutet auch die Glocken. Mehr als 2000 Menschen feiern die Grenzöffnung, die weit später kommt, als erhofft.
Die Grenzöffnung wird vom Glockengeläut beider Wiedelaher Kirchen begleitet. Außerdem erklimmt die Rentnerin Emma Tuckermann den baufälligen Kirchturm in Wülperode und läutet auch die Glocken. Mehr als 2000 Menschen feiern die Grenzöffnung, die weit später kommt, als erhofft.
Wenn der heute 85-jährige Johannes Bienert sich die vielen Fotos aus dem Winter 1989/90 anschaut und seine Frau Helga dazu aus ihren Erlebnisprotokollen jener Tage vorliest, dann weht der Hauch der Geschichte durch die gute Stube in Wiedelah. Der sonst eher zurückhaltende Bienert kämpfte damals als Ortsbürgermeister von Wiedelah wie ein Löwe für einen direkten Grenzübergang zur östlichen Nachbargemeinde Wülperode. Helga Bienert führte allabendlich akribisch Buch über die historischen Ereignisse jener Tage.
„Eine Grenzöffnung zwischen den beiden Orten war damals nicht gewollt“, sagt Bienert. Bereits Ende Dezember 89 war der Grenzpunkt Wennerode-Lüttgenrode aufgemacht worden. „Die Straße dampfte noch, als die ersten Autos rüberfuhren“, erinnert sich Bienert. Stapelburg war schon seit dem 11. November offen. Der Grenzverkehr sollte über diese Übergänge abgewickelt werden. Doch Bienert ließ nicht locker: „Die Menschen in Wiedelah und Wülperode wollten auf direktem Wege zu ihren Nachbarn. Wülperode hatte sich in der Geschichte immer Richtung Vienenburg orientiert.“
Auf Initiative von Bienert wurde ein Förderverein zur Koordinierung der nachbarschaftlichen Beziehungen gegründet. Silvester war es dann so weit. In der Nacht trafen sich Jugendliche aus Ost und West an der Grenze und wollten zusammen das neue Jahr begrüßen. „Bei uns klopfte es dann in der Silvesternacht um 1.30 Uhr an der Tür. In der Eckerklause feierten 18 Wülperoder zusammen mit den Wiedelahern“, erinnert sich Bienert. Zuvor hatten die Jugendlichen mit Zangen kurzerhand den Zaun aufgeschnitten. Das Schlupfloch nutzten sie dann gegen 4.30 Uhr auch wieder für den Rückzug. „Doch am nächsten Tag wurde die Grenze wieder zugemacht“, so Bienert.
Es folgten zahlreiche Besuche Bienerts in Osterwieck und Wülperode. In der Folge sammelten Wülperoder Bürger Unterschriften zur Schaffung eines Grenzübergangs nach Wiedelah. Am 19. Januar war Bienert dann zur Ratsitzung in Wülperode eingeladen, um die Öffnungszeiten eines Grenzübergangs zu klären. Doch es ging ihm nicht schnell genug.
Zu einem entscheidenden Treffen kam es dann am 31. Januar mit dem Grenzabschnittsbevollmächtigten Major Müller in Osterwieck. „Wir sprachen drei Stunden lang. Am Anfang zeigte er sich stur, es wurde laut. Als ich dann gehen wollte, gab er mir die Hand und stimmte der Grenzöffnung zu.“ An der Demontage der Zaunfelder nahm dann sogar ein Hauptmann der DDR-Grenztruppen teil. Bundesgrenzschutz und Zoll wurden benachrichtigt, die Straße über die Grenze wurde geteert und ein Bauwagen als Kontrollhäuschen aus Braunschweig besorgt. Am 10. Februar wurde dann schließlich gefeiert.
Es ist die erste demokratische Wahl in der DDR seit Bestehen der Republik.
Unter den Wegen sind die Routen zum Brocken über die Eckertalsperrmauer sowie von Torfhaus oder Oderbrück aus. Um 8 Uhr wird der alte Wanderweg 30 E von Braunlage nach Schierke freigegeben. Rund 500 Zuschauer kommen zur Öffnung des Weges. Ilsenburgs Bürgermeister Walter Bolz zerschneidet um 8.08 Uhr das trennende Band auf der Eckerstaumauer. Rund 200 Wanderer hatten auf die Freigabe des Wanderwegs gewartet. Die Befestigungen waren bereits abgebaut, aber rot-weißes Flatterband versperrte den Weg über die Staumauer.
Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen DDR und BRD greift. Die innerdeutschen Grenzkontrollen werden aufgehoben.
Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen DDR und BRD greift. Die innerdeutschen Grenzkontrollen werden aufgehoben.
GZ-Leser Frank Menge erlebte nicht nur zur Grenzöffnung eine amüsante Überraschung: Einige Monate später, am 30. Juni 1990, sollte ihm ein Ereignis ganz besonders in Erinnerung bleiben. Bis zu diesem Zeitpunkt sind immer noch Grenzkontrollen durchgeführt worden, sodass kein Westdeutscher ohne Pass die nun imaginäre Grenze zum Osten überqueren konnte. Das Ende dieser Kontrollen markierte Menge persönlich, der an diesem Tag allein unterwegs war – er war der Letzte, der um 23:45 Uhr an der Grenze zwischen Ecketal und Stapelburg kontrolliert wurde. Den Beweis hierfür bewahrt er bis heute auf: eine Urkunde, die ihm Zöllnerin Loretta Kresse im Spaß ausstellte.
Zusätzlich überreichte die humorvolle Zeitgenossin Frank Menge ein handbeschriebenes Blatt Papier, auf dem die wichtigsten Tugenden eines Zöllners der DDR aufgeführt waren. Demzufolge sei ein guter Zöllner ein „am 30.6.90 um 0.00 Uhr das Licht ausmachender“ – ein letzter Akt, der bei Frank Menge bis heute, inklusive der witzigen Urkundenausstellung, ein Schmunzeln im Gesicht hervorruft.
Die Unterzeichnung des 2+4-Vertrags zwischen DDR, BRD, USA, UDSSR, Frankreich und Großbritannien in Moskau macht den Weg zur Wiedervereinigung frei.
Die Unterzeichnung des 2+4-Vertrags zwischen DDR, BRD, USA, UDSSR, Frankreich und Großbritannien in Moskau macht den Weg zur Wiedervereinigung frei.
Deutschlands einziger länderübergreifender Nationalpark, der Nationalpark Harz, verdankt seinem Ursprung der Volkskammer. Bevor die DDR in der Bundesrepublik unterging, verabschiedete das Parlament im Arbeiter- und Bauernstaat am 12. September 1990 ein Parkprogramm. Es war die letzte Sitzung der Volkskammer. Am 3. Oktober kam die Vereinigung.
Die Gründung war der Impuls, auch in Niedersachsen einen Nationalpark zu gründen. Er entstand 1994. Im Januar 2006 schließlich unterzeichneten der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer den Staatsvertrag für den vereinten Nationalpark. Im Rathaus von Wernigerode legten die Christdemokraten zwei überdimensionale Puzzleteile aneinander. Sie symbolisierten den Nationalpark Harz (West) und den Nationalpark Hochharz (Ost).
DDR-Volkskammer und BRD-Bundestag stimmen dem Einigungsvertrag zu. Der Bundesrat zieht einen Tag später nach.
Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland
Pünktlich um 11 Uhr hebt ein Autokran das erste von 2274 tonnenschweren Segmenten auf die Ladefläche eines Lastwagens. Den Befehl zum Abriss erteilte Schierkes Bürgermeister Lothar Thiele.
Die Brockenstrecke wird nach rund 30 Jahren Stillstand mit den Fahrten von zwei Sonderzügen offiziell wiedereröffnet. Zehntausende Menschen von Nah und Fern säumen dabei die Bahnstrecke bis hinauf zum Brockengipfel und feiern das historische Ereignis. Der fahrplanmäßige Zugverkehr beginnt dann am 1. Juli des Folgejahres.
Die Brockenstrecke wird nach rund 30 Jahren Stillstand mit den Fahrten von zwei Sonderzügen offiziell wiedereröffnet. Zehntausende Menschen von Nah und Fern säumen dabei die Bahnstrecke bis hinauf zum Brockengipfel und feiern das historische Ereignis. Der fahrplanmäßige Zugverkehr beginnt dann am 1. Juli des Folgejahres.
Jahr für Jahr lockt der Brocken als höchster Berg des Harzes Millionen von Gästen an. Viele davon nutzen die Dampfzüge der Harzer Schmalspurbahnen GmbH (HSB). Doch was heute als touristische Selbstverständlichkeit gilt, war bis vor 25 Jahren noch nahezu undenkbar: Der Besuch des 1.142 m hohen Gipfels und die Fahrt mit der Brockenbahn.
Die außerordentliche Geschichte der 19 km langen Schmalspurstrecke begann im Sommer 1896 mit den ersten Trassierungsarbeiten. Nach der feierlichen Eröffnung am 27. März 1899 setzte dann für Jahrzehnte ein wahrer Besucheransturm auf der durch ihre landschaftliche Schönheit beliebten Strecke ein.
Das abrupte Ende kam am 14. August 1961. Der Reisezugverkehr zum Brocken wurde nur einen Tag nach Beginn des Berliner Mauerbaus aufgrund eines Ministerratsbeschlusses der DDR zu „weiterführenden Grenzsperrmaßnahmen“ eingestellt. Der neue Endbahnhof für die Personenzüge lag nun in Schierke. Der Ort war aufgrund seiner Lage im Grenzgebiet allerdings auch nur noch eingeschränkt erreichbar.
Der damalige Oberkreisdirektor Dr. Michael Ermrich, später fast 20 Jahre lang Landrat des Landkreises Wernigerode sowie des späteren Landkreises Harz, lud am 7. März 1991 alle am Streckennetz liegenden Landkreise und Kommunen zur Bildung eines einheitlichen Standpunkts zur Privatisierung der Schmalspurbahnen nach Wernigerode ein. Die Anrainer waren sich einig: Alle drei Strecken im Harz - einschließlich der zum Brocken - sollten in ihrer Gesamtheit erhalten werden! Nur sechs Tage später, am 13. März 1991, gründeten dann insgesamt 20 Kommunen aus Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen eine kommunale Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) mit dem Ziel, das Gesamtnetz zu erhalten und den Betrieb von der Deutschen Reichsbahn (DR) zu übernehmen. Im Rahmen dieser Solidargemeinschaft erklärten sich auch die Länder Sachsen-Anhalt und Thüringen zur finanziellen Unterstützung bereit. Gesellschafter der HSB waren und sind bis heute die Landkreise und die an der Strecke liegenden Städte und Gemeinden: die Landkreise Harz und Nordhausen, die Städte Wernigerode, Nordhausen, Quedlinburg, die Stadt Oberharz am Brocken, die Gemeinde Harztor sowie die Braunlage Tourismus GmbH.
Es ging zügig voran. Mit Unterstützung des Landes Sachsen-Anhalts und der Gesellschafter wurde im Mai 1991 die Finanzierung für die notwendige Sanierung der Brockenstrecke sichergestellt. Den offiziellen Spatenstich vollzog der Minister für Wirtschaft, Technologie und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Horst Rehberger, am historisch bedeutsamen 17. Juni desselben Jahres im Bahnhof Schierke. Während der nachfolgenden Bauarbeiten wurden insgesamt 5.400 Meter Gleise sowie zahlreiche Durchlässe und eine Brücke saniert.
Nach einer heute unvorstellbaren Rekordbauzeit von nur drei Monaten war am 15. September 1991 der lang ersehnte Augenblick da: Die Wiedereröffnung der Brockenbahnstrecke. Heute nutzen jährlich mehr als 1,1 Millionen Fahrgäste aus aller Welt die historischen Dampfzüge der „Größten unter den Kleinen“. Mit insgesamt 140,4 km verfügt die HSB über das längste zusammenhängende Schmalspurnetz mit täglichem Dampfbetrieb in Europa und ist auch Eigentümerin von insgesamt 25 historischen Dampflokomotiven.