Vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 gilt die Mauer als die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Osten und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Westen. Das Hauptziel: Um den Zusammenbruch der DDR zu vermeiden, aus der immer mehr Menschen Richtung Westen fliehen, soll eine Grenze erbaut werden. Ursprünglich ist Berlin sowie das gesamte Deutschland nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 unter den vier verbündeten Siegermächten aufgeteilt. Die siegreichen Westmächte sind hierbei Frankreich und Großbritannien unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ihnen gegenüber steht der sogenannte Ostblock, dessen Führung die russischsprachige Sowjetunion übernimmt. Doch auch nachdem diese Mächte das deutsche Territorium unter sich aufteilen, herrscht kein Frieden. Ab 1947 beginnt der Kalte Krieg zwischen den unterschiedlichen politischen Systemen in Ost (Kommunismus) und West (Kapitalismus). Ein Krieg, der allerdings nie mit direkten militärischen Kämpfen auf einem Schlachtfeld ausgetragen wird. Doch beide politischen Lager versuchen mit allen Mitteln, den Einfluss des jeweils anderen zu verringern.
Einen Höhepunkt dieses Konflikts stellt schließlich der Bau der Berliner Mauer dar. Obwohl der DDR-Politiker Walter Ulbricht noch am 15. Juni 1961 in einer Pressekonferenz betont, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten, ist der Bau bereits seit 1958 in Planung. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 wird die Mauer das Sinnbild des sogenannten Eisernen Vorhangs. Diesen Begriff für die Abschottung des Ostblocks vom Westen prägt bereits 1945 Winston Churchill, der Premierminister Großbritanniens. Durch die Mauer etablieren sich nun innerhalb eines Landes zwei verschiedene politische Systeme. Gleichzeitig werden Klischees über die Menschen des jeweils anderen Systems verbreitet: Die sogenannten Ossis seien alle ungebildet, faul und arbeitslos. Sie würden dazu neigen, ständig nackt oder in Feinripp-Unterhemden herumzulaufen. Die sogenannten Wessis seien hingegen das absolute Gegenteil: wohlhabender, aber auch überheblich, spießig und unselbständig, wenn es um handwerkliche und anstrengende Arbeit ginge. Dies sind aber verallgemeinernden Zuschreibungen, die keinesfalls auf die Mehrheit zutreffen. 28 Jahre soll die Mauer Ost- und Westdeutschland trennen.
In Ostberlin und anderen Städten der nach Westen abgeschotteten DDR überschlagen sich Anfang November 1989 die Ereignisse einer Revolution, von der man noch nicht weiß, ob sie friedlich ausgehen wird. Montagsdemos und der immer lauter werdende Ruf nach (Reise-)Freiheit haben das Volk in Bewegung gesetzt. Das ist auch auf der Westseite der innerdeutschen Grenze zu spüren. Hier bahnen sich dramatische Veränderungen an, insbesondere im Harz.
Gerade ist die DDR-Regierung unter Führung von Willi Stoph zurückgetreten, da erreichen 280 Übersiedler aus dem sozialistischen Staat die Stadt Goslar: Hier hat der Bundesgrenzschutz provisorische Unterkünfte in seinen Kasernen am Rammelsberg und an der Kaiserpfalz bereitgestellt. Die Ankömmlinge sind Teil einer Massenflucht von 120.000 DDR-Bürgern. Darunter auch viele Familien mit Kindern, die über das Schlupfloch CSSR in die Bundesrepublik gelangt waren. Manche dachten, es sei die vielleicht letzte Chance, der Aussichtslosigkeit ihres Landes zu entkommen, aber es sollte ganz anders kommen - und das Schlag auf Schlag.
Den Stein ins Rollen bringt am Abend des 9. November 1989 das als Regierungssprecher fungierende SED-Politbüromitglied Günter Schabowski. Gegen Ende einer langweiligen Pressekonferenz zitiert er einen Schriftzug zur neuen Reisefreiheit, den er erst kurz zuvor erhalten und noch nicht studiert hat. Demnach hat der Ministerrat beschlossen, dass künftig alle DDR-Bürger kurzfristig und ohne viel Formalitäten „Privatreisen nach dem Ausland“ unternehmen dürfen. Diese Regelung gelte, verkündet Schabowski lapidar eine Sensation, nach seiner Einschätzung „mit sofortiger Wirkung“. Jetzt sind die Journalisten wach.
Das Schriftstück aus dem unter Auflösungserscheinungen stehenden Ministerrat war noch im Entwurfsstadium. Deshalb ist niemand vorbereitet: weder die Bundesrepublik und ihr Grenzschutz, noch die DDR-Staatsorgane und Grenzoffiziere der Nationalen Volksarmee. Wie vom Blitz getroffen, entscheiden sich Letztere zum Glück für Besonnenheit und öffnen angesichts drängender Menschenmassen auf der Ostseite noch am Abend in Berlin die Mauer - 28Jahre nach ihrem Bau.
Schon tags darauf bilden Tausende Trabis und Wartburgs eine Schlange am Autobahn-Grenzübergang Helmstedt-Marienborn, deren Ende mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist. „Wir fahren nur mal kurz in den Westen, um Verwandte zu besuchen“, tönt es aufgeregt aus einem Trabant, als der qualmende Zweitakter im Schritt-Tempo durch das lange Spalier winkender Bundesbürger fährt. Das Wort „Wahnsinn“ hört man aus jedem Auto. Und es fließen Tränen der Rührung, auf beiden Seiten.
Wird der Mantel der Geschichte jetzt auch den Harz streifen? Eine angespannte Ruhe herrscht an diesem 10. November im Bereich der „Grenzschutzabteilung Nord 5“ zwischen Vienenburg und Walkenried. Bei Wiedelah haben zwei Soldaten der DDR-Grenztruppen hinterm Zaun Posten bezogen. Als sich ein GZ-Reporter mit Fotografin auf freiem Feld nähert und den Grenzpfahl hinter sich lässt, reagieren die Grenzer irritiert, wählen dann aber die alte Ordnung: „Ich fordere Sie auf, das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen“, schallt es den Grenzübertretern aus dem Westen entgegen. Aber: Als die beiden Bundesbürger beim Kehrtmachen freundlich winken, erwidern die Uniformierten den Gruß - unauffällig.
„Sollte die Grenze geöffnet werden, wäre ich der Erste, der mit dem Fahrrad nach Ilsenburg rüberfährt“, sagt nur wenige Kilometer südlich Bad Harzburgs Bürgermeister Klaus „Jockel“ Homann. „Wir reparieren die Eckerbrücke an der B6, und dann fahren wir durch.“
Große Zeitungs-Schlagzeilen gab es im September 1967 über den missglückten Fluchtversuch eines DDR-Grenzsoldaten: „Zwei Vopos schlugen Flüchtling bewusstlos“, „Geflohener Grenzer aus dem Westen zurückgeholt“, „Fluchtdrama an der Zonengrenze“.
Allerdings hatte damals von westlicher Seite aus niemand das Geschehen beobachtet. Es gab nur Spuren, Vermutungen. Auch seitens der DDR sollten nicht zu viele Einzelheiten bekannt gemacht werden, denn schließlich handelte es sich bei dem Vorfall um Schusswaffengebrauch – und noch dazu auf westlichem, also „feindlichem“ Gebiet. Darum war es nicht verwunderlich, dass damals zu dem Fluchtversuch manches Falsche erzählt und gedruckt wurde, wie es auch heute noch gelegentlich der Fall ist.
Diese Vorgänge sind inzwischen lange her, und erst jetzt – nach 47 Jahren – konnte manches geklärt werden. Es begann mit einem Anruf bei Friedemann Schwarz vom Hohegeißer Museumsverein, in dem ein Herr aus Hannover bat, das Hohegeißer Museum besuchen zu können. Der Name des Herrn war Ralf Wolfensteller, was zunächst nichts Besonderes schien. Doch das änderte sich schnell, als er ergänzte, er sei derjenige, der 1967 den vergeblichen Fluchtversuch gemacht hatte.
Schon für den nächsten Tag wurde ein Besuch im Heimatmuseum verabredet. Dabei gab es so viele interessante Informationen, dass ein weiteres Gespräch anstand. Das war dann eine Viererrunde, an der auch die früher in Hohegeiß tätigen Zollbeamten Fritz Jentzsch und Manfred Gille teilnahmen.
Wie der 1946 in Leipzig geborene Ralf Wolfsteller berichtete, hatte er schon als Jugendlicher den Wunsch, „in den Westen“ zu kommen. Der Bau der Berliner Mauer machte alle Pläne zunichte, aber als er später als Wehrpflichtiger zur Grenzkompanie Rothesütte kam, sah er seine Chance. Am 25. September 1967 wurde er zu einer Dreierstreife eingeteilt, „Grenzaufklärer“, die auf östlicher Seite unmittelbar an der Grenzlinie zu gehen hatten. Ihre Aufgabe war es, die Grenzsteine und die -säulen mit den auf der Westseite – also „feindwärts“ – angebrachten und immer wieder beschädigten DDR-Emblemen zu überprüfen. Dabei gingen sie zwar unmittelbar an der Grenze entlang, hatten aber strenge Anweisung, bei den Kontrollen das Gebiet der „BRD“ nicht zu betreten.
Am gleichen Tag waren auf westlicher Seite die beiden Zollbeamten Fritz Jentzsch und Peter Schmelter unterwegs. Sie waren mit einem Zollauto zum Jägerfleck gebracht worden, machten eine „Grenzbegehung“. Sie sollten von westlicher Seite aus den Grenzverlauf kontrollieren und eventuelle Veränderungen feststellen.
Bei der Hinfahrt zum Jägerfleck hatte man die jeweils „Anderen“ jenseits der Grenze gesehen, dies aber nur registriert, ohne Besonderes zu bemerken. Als das Zollauto auf dem Weg zum Jägerfleck schon mehrere Hundert Meter entfernt war, kam Wolfensteller zu einer dicht an der Straße stehenden Grenzsäule. Er kontrollierte die Westseite der Säule, drehte sich dann plötzlich um, überquerte mit zwei Schritten die Grenzlinie und rannte über die B 4 in das angrenzende Waldstück. Der Kompaniechef folgte ihm auf westliches Gebiet und schoss aus etwa 12 Meter Entfernung auf den Flüchtenden, der an Brust und Arm getroffen wurde, sich aber trotz dieser Verletzungen noch heftig wehrte.
Schließlich wurde er vom Kompaniechef und dem Dritten der Grenzaufklärer-Gruppe aus dem Wald und über die Straße zurück auf DDR-Gebiet geschleppt. Da er das Bewusstsein verloren hatte, kann er sich nur noch an eine spätere Notoperation in Blankenburg erinnern.
Von westlicher Seite hatte man zwar bei Hohegeiß Schüsse gehört, aber sonst nichts feststellen können. Erst als die beiden Zollbeamten bei ihrer Grenzbegehung an den Ort des Geschehens kamen, bemerkten sie Schleifspuren im taufeuchten Gras und auf der Straße. Sie verfolgten die Spur nach Westen bis in den Wald und fanden eine Mütze, Einschüsse in Bäumen und weitere Hinweise auf das, was sich da abgespielt hatte.
Ralf Wolfensteller wurde später angeklagt und zu fünfeinhalb Jahren im Speziallager Berlin-Hohenschönhausen verurteilt. Nach vier Jahren wurde er 1971 „freigekauft“, „ausgebürgert“ und in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ in die Bundesrepublik abgeschoben.
Das alles wurde wieder lebendig, als sich der damalige Flüchtling Wolfensteller und der frühere Zollbeamte Jentzsch nach 47 Jahren erstmals trafen. Beide berichteten, was sie von damals wussten, und manches falsch Überlieferte konnte im Gespräch korrigiert werden.
Ohne Gefängnis und Flucht keine Firma und Erfolg: Wenn der 22-jährige Sachse Dietmar Kipping vor 44 Jahren nicht den Mut gehabt hätte, sich nachts mit einem Freund im Faltboot aus der DDR von der Halbinsel Darß über die Ostsee nach Dänemark abzusetzen, hätte er zehn Jahre später in Goslar nicht den Grundstein für seine Firma PDV-Systeme legen können.
„Der Knast war eine gute Schule.“ Ein solcher Satz aus dem Munde eines Firmenchefs mag zunächst Staunen auslösen. Wer die Lebensgeschichte hört, wundert sich nicht mehr. Vielleicht bewundert er sogar den Mut, den der junge Informatik-Student Kipping 1968 zu Zeiten des Prager Frühlings an den Tag legte. In seiner Uni-Stadt Freiberg sammelte er damals – „im guten Glauben“, wie er versichert – Unterschriften gegen den aggressiven Akt der Sowjetunion gegen den kleinen sozialistischen Bruder.
Das Tun blieb nicht lange verborgen. Die Stasi hatte ihre Ohren und Augen überall und buchtete den „Handlanger des Imperialismus“ kurzerhand ein. Für moderne Zeitgenossen ungewöhnlich: In einem Flugblatt rechnet die Staatsmacht schonungslos mit einem Studenten(!) ab. „Er agitierte mit Langhaarigen mit dem Niveau des Springer-Konzerns gegen die brüderliche Klassensolidarität der SU und der anderen sozialistischen Länder, die sie in Stunden ernster Gefahren für den Sozialismus und die Sicherheit der Völker den Klassenbrüdern der CSSR gewährten“, heißt es dort. Kipping habe vergessen, dass es die Arbeiterklasse gewesen sei, die ihm eine Berufsausbildung mit Abitur bezahlt habe.
Oh nein, Kipping vergaß nichts. Vor allem nicht jenes Urteil, das ihm 22 Monate ohne Bewährung wegen staatsgefährdender Hetze einbrachte. Vier Monate saß er in einem Leipziger Gefängnis und – siehe Zitat oben – lernte von den Zellengenossen. „Es waren ja kaum Kriminelle drin“, erinnert sich Kipping. Die DDR hatte vor allem gescheiterte Republikflüchtlinge und Protestanten gegen den sowjetischen Prag-Einzug eingebunkert. Von dort kamen die wertvollen Tipps, die er nach seiner Freilassung auf Bewährung – nicht aus Gnade, die Gefängnisse waren schlicht zu voll – in eine akribische Planung umsetzte.
Es war klar, es geht nur über das Wasser.“ Mit dieser Lehre im Kopf konzentrierte sich Kipping, der sich aus wirtschaftlichen Erwägungen schon früher mit Flucht-Gedanken getragen hatte, in Prerow auf dem Darß. 1969 machte er Urlaub mit Freunden im Ostseebad. In diesem Sommer stahl jemand ein Fischerboot und entkam – mit der Konsequenz, dass die Fischerboote weggesperrt wurden. „Also mussten wir im nächsten Jahr unser eigenes Boot mitbringen“, sagt Kipping lakonisch. Ein kleiner Außenbordmotor trieb das Schlauchboot an. „60 Kilometer mit dem Paddel hätte ich mir nicht zugetraut.“
Was er erst vor wenigen Monaten durch Einsicht in seine Akten herausgefunden hat, mutet wie ein Treppenwitz der Geschichte an: Im Dezember 1970, als Kipping schon vier Monate im Westen war, bescheinigen ihm die DDR-Behörden eine gelungene Bewährung: „Er ist nicht mehr auffällig geworden.“ Auch im sozialistischen Überwachungsstaat arbeiteten die Behörden offenkundig aneinander vorbei. Trotzdem reichte es, ihm auf der anderen Seite eine 18-jährige Einreisesperre in die DDR aufzubrummen.
Kippings weiterer Weg – auffällig erfolgreich übrigens – ist kurz erzählt: Über Lübeck und das Notaufnahmelager in Gießen kam Kipping nach Goslar. Dort wohnte ein Onkel, der ebenfalls aus der DDR geflohen war und ihm einen Kontakt zum Clausthaler TU-Professor Dr. Walter Ehlert herstellte. Dank dessen Hilfe konnte sich der Neu-Oberharzer auf dem kurzen Dienstweg einschreiben („Zeugnisse werden nachgereicht“) und sofort mit dem Studium mit Schwerpunkt auf Verfahrens- und Messtechnik beginnen.
Übrigens: Der kleine Hilfsdienst war nicht ohne Gegenleistung gedacht. Kipping sollte für die schlagende Verbindung des Professors geworben werden. „Ich wollte aber nicht eine Abhängigkeit sofort mit der nächsten tauschen“, ließ sich der DDR-Flüchtling gar nicht erst einfangen.
An der TU Clausthal traf Kipping aber auch jenen Mann, der ihn beruflich in die richtigen Bahnen lenken sollte. Professor Dr. Rudolf Jeschar – von den Studenten liebevoll „Ofen-Rudi“ genannt – machte ihn zu seinem Assistenten an der TU und wurde später zum Doktorvater für Kipping.
Als er promovierte, war er aber bereits bei den Vereinigten Aluminiumwerken in Lünen tätig. Der inzwischen verstorbene Jeschar lotste ihn wieder nach Goslar und besorgte beim Schritt in die Selbstständigkeit die ersten beiden Aufträge. Aus Lünen warb Kipping auch seinen ersten Mitarbeiter ab: Mit Tristan Niewisch ging er gemeinsam einen langen Firmenweg.
Als „IWP – Ingenieurbüro für Wärme- und Prozesstechnik“ bezog die neue Firma 1980 das Büro einer früheren Zahnarztpraxis in der Hokenstraße – die meisten Anrufer riefen anfangs übrigens noch wegen Behandlungsterminen an. 1987 zog das Unternehmen nach einem Zwischenstopp an der Bleichestraße in die Büroräume in der Bornhardtstraße. 1989 erfolgte die Umwandlung in die „PDV-Systeme Gesellschaft für Systemtechnik mbH“.
In all den Jahren wuchs das Unternehmen beständig an. „Es bekam eine Eigendynamik, meine Intention zu bremsen, ist mir nie gelungen“, schmunzelt Kipping. Aber ob er die Firma auch gegründet hätte, wenn er gewusst hätte, wie hart die ersten fünf Jahre werden sollten? Gattin Christina stärkte ihm von Beginn an den Rücken.
Die beiden Kinder Jan und Marit sind beide längst selbst Eltern. Weil sich der Sohn – bei Daimler in der Software-Forschung für E-Autos in Sindelfingen beschäftigt – und die Tochter – sie spielt Violine im Braunschweiger Staatsorchester – beruflich früh anders orientierten, stand vor Jahresfrist das Loslassen von der Firma an.
Ende 2013 verabschiedete sich der geschäftsführende Gesellschafter wie lange angekündigt aus dem operativen Tagesgeschäft und gibt spätestens bis 2018 auch seine Anteile am Unternehmen ab.
Langweilig wird dem durchtrainierten und reiselustigen Senior bestimmt nicht. Mit Klettern und Laufen als Hobby und einem Faible für lateinamerikanische Länder warten noch viele Freizeit-Abenteuer auf den Individual-Urlauber.
Gerade wieder auf Kuba gewesen, schwärmtDietmar Kipping neben Patagonien vor allem von dieser Insel: „Ein faszinierendes Land mit fantastischen Menschen.“ Zur Politik dort muss er nicht viel sagen. Für seine Flucht vor mehr als vier Jahrzehnten hatte er genügend gute Gründe.
Anstatt zur Verlobten ging es in den Westen. Helmut Gleuel, ehemaliger Zollbeamter der Grenzaufsichtsstelle Eckertal, half einem Soldaten der NVA zur Flucht.
Es war in den Abendstunden eines nebligen Herbsttages „Ende der 60er Jahre“, als Gleuel und ein Kollege an der Grenze in Eckertal patrouillierten. Plötzlich kam ihnen ein Mann entgegen, der sie verängstigt und unaufgefordert darüber informierte, dass er Soldat der DDR-Grenztruppen und gerade geflohen sei – ein „Republikflüchtiger.“
Der Mann, stationiert in der Grenzkompanie Stapelburg, hatte eine Verlobte, die im Schutzstreifen in Stapelburg wohnte. Eine Sondergenehmigung erlaubte ihm, die Dame immer mal wieder zu besuchen. Dieses Privileg nutzte er aus: An jenem besagtem Abend verließ er die Kaserne, ging aber nicht zur Verlobten, sondern schlich nur mit einem Kompass ausgerüstet zur „Staatsgrenze West“.
Schweißtreibende Stunden später, der Soldat grub sich unter den Grenzzaun durch, lief der Flüchtling Gleuel in die Arme. Die mehrstündige und lebensgefährliche Fluchtaktion war geglückt. Die westdeutschen Zollbeamten übergaben den glücklichen Mann letztendlich an den Bundesgrenzschutz Goslar. Helmut Gleuel hält noch heute ein Dankeschön-Geschenk des Flüchtlings in Ehren: den Marschkompass F58, der den Weg zum Grenzzaun wies.
Das Ende des Eisernen Vorhangs veränderte das Leben der Menschen, die auf westlicher und östlicher Seite ihren Dienst versahen. So auch das von Helmut Maushake, heute 70. Den Mauerfall erlebte der damals 45-Jährige als Hauptmann der DDR-Grenztruppen – er wirkte noch beim Abriss des Todesstreifens mit, um später als Möbelmonteur zu arbeiten.
Er erblickte als Sohn einer Handwerkerfamilie in Pabstorf, Kreis Halberstadt, das Licht der Welt. Er wollte Tischler werden, machte eine Lehre. „Doch um seinen Meister machen zu können, musste man fünf Jahre in dem Beruf arbeiten – und damals gab es überhaupt kein Material“, berichtet er.
Früh hatte er geheiratet, eine Familie zu versorgen. Da gaben für ihn materielle Gründe den Ausschlag, zur Grenztruppe zu gehen. „Ich fasste den Entschluss, mich als Berufssoldat zu verpflichten und die Offizierlaufbahn einzuschlagen, ,da kriegste ne Mark mehr‘ sagte ich mir“, erinnert er sich. „Ich habe alles genutzt, ich wollte was werden“, schildert er seine Einstellung von damals. Er wurde sogar Offizier der Grenzaufklärung – heißt: Er durfte auf die Westseite des Zauns. „Grenzaufklärer waren im Westen nicht wohlgelitten. Aber auch im Osten waren sie neben den Stasi-Leuten wohl die Meistgefürchteten. Auch verantwortlich dafür, das Stimmungsbild in der Bevölkerung zu erkunden“, sagt er. Grenzaufklärer galten als linientreu. Hundertprozentig. Keine Fluchtgefahr. Aber im DDR-Grenzabschnitt gegenüber von Vienenburg durfte er trotzdem nicht zum Einsatz kommen – in der Harlystadt wohnte ein Onkel von ihm.
„Wenn es irgendwelche Vorkommnisse gab, musste ich die Feuerwehr spielen, wenn einer abhauen wollte und festgenommen wurde, saß er bei mir aufm Stuhl – und dann gab es nichts mehr zurückzudrehen. Die Meldung war draußen.“ Und er fügt an: „Mir ging es nicht darum, jemanden anzuscheißen.“
Der Dienst an der Grenze – sein Beruf. „Wir bekamen eingetrichtert, dass von deutschem Boden niemals wieder Krieg ausgehen dürfte – und die Grenze, der sogenannte antiimperialistische Schutzwall, den Frieden gewährleistet. Aber wer sich den Aufbau der Grenzanlagen anschaute, der wusste genau, gegen wen sie sich richtete“, sagt Maushake. Bei jeder Vergatterung wurden die Soldaten darauf eingeschworen Grenzverletzer, aufzuspüren, festzunehmen oder zu vernichten. „Ich bin froh, niemals in einer Situation gewesen zu sein, dass ich von der Schusswaffe Gebrauch machen musste.“ Aber es gab auch die Anderen, die „Dienstgeilen.“
Maushake fragte sich alsbald nach Jahren des Dienstes, wie lange die DDR ihr System aufrecht erhalten könne. „Die Regierung ließ Züge umleiten, damit sie nicht an Mauern vorbeifuhren, auf die der Führung unliebsame Parolen gepinselt worden waren“, sagt Maushake. Dann kam er, der Tag des Mauerfalls. „Ich war froh, es war für mich Erleichterung“, sagt er. Aber es keimten auch Zukunftsängste auf, die Frage nach der Rente – bei ihm, der aus materiellen Gründen Berufssoldat wurde.
Erwartungen hatte er keine. „Ich habe keine Handlungen durchgeführt, die ein Anlass dafür hätten sein können, mir den Stuhl vor die Tür zu setzen. Ich war stolz, dass ich Grenzer war – und wäre ich im Westen aufgewachsen, wäre ich bestimmt zu Bundesgrenzschutz oder Zoll gegangen.“ Sein Fazit: „Gott sei Dank ist alles so gekommen und nicht anders. Und Gott sei Dank hat die zweite Reihe nach der Honecker-Absetzung nicht an die Waffen gerufen.“
Es war der Tag, der sein Leben veränderte: Als Hans-Georg Kruse am Dienstag, 13. November 1973, zur Arbeit ging, ahnte er nicht, dass in wenigen Stunden alles anders sein würde.
Der 22-Jährige aus Harsleben hat seit Wochen einen ungewöhnlichen Job: Von Wülperode aus rollt er morgens mit einer Planierraupe durch ein Tor im Grenzzaun, über eine Trasse im Minenfeld und durch den zweiten Zaun. Dahinter biegt er scharf nach rechts ab Richtung Oker. Damit bei Hochwasser nicht Tretminen unterspült und aus dem Todesstreifen davongeschwemmt werden können, ist das Ufer befestigt worden. Weil der Aushub den Grenzern aber die Sicht nimmt, hat Kruse den Auftrag, die zu Wällen aufgetürmte Erde mit der Raupe zu verteilen – stets bewacht von zwei NVA-Soldaten.
Es ist Vormittag. Ein leichter Wind weht, aber es regnet nicht. Plötzlich kommt der Befehl, die Arbeit einzustellen und sofort zurückzukehren. Kruse und die beiden Wachposten nehmen mit der Raupe Kurs auf den Durchlass im Zaun. Wieder verläuft die Strecke entlang der Grenze, nur wenige Meter vom Westen entfernt.
Auf der anderen Seite fährt Obermeister Peter Puhle mit drei Kameraden Streife. Der Bundesgrenzschutz ist auf einem Feldweg in Richtung Oker unterwegs. Noch wissen die beiden Trupps, die sich aufeinander zu bewegen, nichts voneinander. Als die Raupe auf Parallelkurs in Sicht kommt, lässt Puhle das Fahrzeug stoppen und steigt aus. Es ist 10.30 Uhr.
Kaum sieht Kruse die Grenzschützer vor sich, schlägt sein Adrenalinspiegel Purzelbäume. Es ist die Chance seines Lebens. Er zwingt sich zur Ruhe – die beiden Soldaten, deren Vertrauen er sich erarbeitet hat, sollen ihm jetzt bloß nicht seine Unruhe anmerken.
Als sich die Raupe auf Höhe der Bundesgrenzschützer befindet, lässt Kruse einen Schlüsselbund auf den Motor fallen und hält das Gefährt an. Jetzt trennen ihn vielleicht noch sechs Meter vom Westen.
Einer der NVA-Soldaten stößt mit einem Schraubendreher den Schlüssel herunter, Kruse kriecht unter die Raupe, um ihn aufheben – der zweite Soldat beobachtet derweil durch sein Fernglas die Männer im Westen.
Jetzt oder nie: Kruse springt hinter der Raupe hervor und ist mit wenigen Sätzen im Westen. Puhle nimmt seine Pistole in Anschlag. Reflexartig reißt auch einer der NVA-Soldaten sein Gewehr in die Höhe, erkennt aber sofort, dass er nichts mehr ausrichten kann. Kruse hat den Feldweg im Westen überquert und verschwindet hinter einem Wall – dahinter rennt er weiter und immer weiter.
Die NVA-Soldaten verstecken sich hinter der Raupe und machen Meldung. Und sie nutzen die Zeit, um sich auf einen Tathergang zu verständigen, der sie beide möglichst gut aus der Geschichte herauskommen lässt. So werden sie später der Stasi berichten, sich hätten zwischen der Raupe und der Grenze gestanden, um eine Flucht unmöglich zu machen. Sie sei nur geglückt, weil auf der Westseite vier Personen mit durchgeladenen Waffen gestanden hätten.
Puhle schickt seinen Posten hinter Kruse her, lässt den Wagen wegfahren und macht sich gemäßigten Schrittes langsam auf den Rückzug.
Innerhalb von zwei Wochen ändert die DDR die Dienstvorschriften, um zu verhindern, dass sich eine solche Flucht wiederholt. Offensichtlich ist, dass nicht nur den Soldaten vor Ort, sondern auch den Dienststellen Fehler unterlaufen sind. Nie hätte Kruse, ein junger, lediger Mann, mit der Arbeit unmittelbar an der Grenze beauftragt werden dürfen.
Kruse wird am BGS-Standort Goslar eingekleidet, kommt ins Aufnahmelager nach Helmstedt und schließlich ins Übergangslager nach Gießen. Jahre später steht er wieder vor dem Kasernentor in Goslar, will Kontakt zu seinem Lebensretter aufnehmen und sich bedanken. Doch die Wache schickt ihn weg – Nachrichten, die er für Puhle hinterlegt, erhält dieser nie.
Umgekehrt lässt das Erlebnis auch Puhle nicht ruhen. Nach Schließung des Standorts sucht er im Staatsarchiv in Hannover die dort eingelagerten Unterlagen über den Fall heraus und bekommt von Kruses Eltern dessen Telefonnummer in Hamburg. Beide verabreden sich zu einem Treffen an der Grenze zwischen Wiedelah und Wülperode – dort, wo vor nunmehr 41 Jahren die Flucht gelang.
Als ich dorthin zurückgekommen bin, ist mein Herzschlag in die Höhe gegangen“, erinnert sich Kruse. Ihm fällt ein, dass er nie Angst hatte, es könne jemand zu Schaden kommen. „Ich habe geglaubt, die werden schon nicht schießen.“ Puhle hat da seine Zweifel. „Wenn denen die Nerven durchgegangen wären oder die schneller gewesen wären, und ich in deren Rohrmündungen geguckt hätte . . .“, sagt er und spricht den Gedanken nicht zu Ende. Das, was am 13. November 1973 alles hätte schief gehen können, mag er sich nicht ausmalen.
Zum Leben an der Grenze gehörten immer wieder aufsehenerregende Ereignisse. Für viele im Harz hatte die Grenzziehung aber auch ganz persönliche Folgen, über die keine Zeitung berichtete. Dazu gehörte die Trennung von Familienangehörigen „im Osten“. Ein Beispiel:
Seit 1945 wohnte Wilhelm H. in Hohegeiß, aber viele von seiner Verwandtschaft, so auch seine Schwester Frieda, lebten in Benneckenstein. Anfangs gab es noch Besuche über die Grenze hinweg, aber dann blieb nur noch das Briefeschreiben.
Auch zum 70. Geburtstag konnte die Schwester nicht aus Benneckenstein nach Hohegeiß kommen. Es kam nur ein Brief mit folgendem Inhalt: „Lieber Wilhelm! Gern würde ich Dich an Deinem Geburtstag besuchen und mit Euch feiern. Aber aus den bekannten Gründen geht es leider nicht. Du sollst aber wissen, daß ich trotzdem an diesem Tag an Dich denke. Ich werde mittags ein weißes Bettlaken aus dem Bodenfenster unseres Hauses hängen. Wenn Du das siehst, ist es ein Gruß von Deiner Schwester ...“
Und so ging Wilhelm H. am Geburtstag mittags auf den Brockenblick, der damals noch freie Sicht nach Benneckenstein bot, und suchte mit dem Fernglas das Haus seiner Schwester. Als er das Bodenfenster und das Bettlaken sah, wusste er: Meine Schwester denkt an mich.
Was für ein Gefühl es wohl ist, zum ersten Mal in seine eigene Stasi-Akte zu schauen? Eine Goslarerin, die in der DDR gelebt hat, hat sich nach der Wiedervereinigung Einblick in die Unterlagen verschafft, die das Ministerium für Staatssicherheit über sie angelegt hatte. Sie möchte anonym bleiben. Ein Großteil der Aufzeichnungen sei wohl vernichtet worden, wie übrigens auch die komplette Akte ihres Ehemannes sagt die Frau. "Darum war es eigentlich nicht so spektakulär", erinnert sie sich an ihren ersten Blick auf die Unterlagen. Vor allem Zeitpunkte, wann ihre Familie Kontakt zur Verwandtschaft in der Bundesrepublik Deutschland hatte, sei dokumentiert worden. Und eben dieser Auszug: Es ist eine kurze Zusammenfassung ihrer Lebensverhältnisse. Wie ist ihr Ruf bei der Arbeit, welche Freundschaften pflegt sie, wie ist ihr Verhältnis zur SED? Auch ihre familiären und finanziellen Verhältnisse werden aufgeführt, ebenso wie ihr Verhältnis zu den Nachbarn, Verbindungen zu "konfessionellen Einrichtungen" und Kontakte nach Westdeutschland. Die betroffene Person wird ständig als "die [NACHNAME]" bezeichnet. Unterschrieben ist der Bericht mit "Sonde" - Deckname des Informanten, den die Goslarerin bis heute nicht kennt. "Für die Richtigkeit (fdR.)" unterzeichnete ein gewisser "Ingo" - wohl ein hauptamtlicher Stasi-Offizier.