Nach der jüngsten Gründung als Tochter-GmbH des Regionalverbandes will die Ein-Harz-Initiative weiter Fahrt aufnehmen – barrierefrei sozusagen. Denn die Grenzen von drei Bundesländern und fünf Landkreisen sollen nicht hindern, den Harz über den Tourismus hinaus auch als Wirtschaftsregion, Kulturregion und auf den Verwaltungsebenen enger zu vernetzen. „Wirtschaft im Harz“ ging mit Dr. Oliver Junk ins Interview. Er ist Initiator und Aufsichtsratsvorsitzender der Ein-Harz-Initiative.
Herr Dr. Junk, „jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, hieß die vielzitierte Devise von Willy Brandt nach dem Mauerfall im November 1989. Knapp 25 Jahre später sorgten Sie als Goslarer Oberbürgermeister mit einem ungewöhnlichen Vorstoß auf regionaler Ebene für Schlagzeilen: Der ganze Harz sollte in einem Landkreis zusammenwachsen, also über die Ländergrenzen von Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen hinweg. Die Sache scheiterte, aber war dies dann die Geburtsstunde der Ein-Harz-Initiative?
Tatsächlich hat dieser Vorstoß 2014 aufgerüttelt und motiviert, Menschen aus der gesamten Harz-Region zusammenzubringen. Unmittelbar nach der Wende 1989/90 gab es schon einmal – mit dem damaligen Oberkreisdirektor Müller in Goslar und dem damaligen Landrat Michael Ermrich in Wernigerode – Menschen, die gesagt haben: Jetzt lasst uns auch Ost- und West-Harz sehr nahe zusammenbauen und verflechten. Aber nach dieser Anfangszeit entwickelte sich dies auch wieder stark auseinander. Sachsen-Anhalt war sehr stark mit sich selbst beschäftigt, allein durch drei Kommunalreformen in 20 Jahren, durch den verwaltungstechnischen Umbau von Städten und Landkreisen, aber auch viele personelle Veränderungen. Im West-Harz gab es ein Stück weit Nicklichkeiten oder, wenn wir so wollen, auch Neiddebatten: riesiges Fördergefälle, hohe Subventionen nach Ilsenburg, Wernigerode, Halberstadt oder Quedlinburg, in der Folge auch Unternehmen, die konkret von West nach Ost umgesiedelt sind. Da haben viele beklagt: „Das kann ja wohl nicht wahr sein. Das ganze öffentliche Geld, Förderung der touristischen Infrastruktur fließen in den Ost-Harz, die kriegen riesige Zuschüsse – und wir nicht.“ Und als i-Tüpfelchen obendrauf kamen beispielsweise noch Streitigkeiten um Namen und Begriffe. Stichwort: „Wer ist denn jetzt Oberharz? Wer ist denn Landkreis Harz? Dürfen die sich in Sachsen-Anhalt einfach so nennen?“ Und noch vieles mehr. All diese Dinge haben dann auch zum persönlichen und emotionalen Gegeneinander geführt.
Und das ist jetzt überwunden?
Eines möchte ich zunächst noch anfügen: In Sachen Tourismus hat es länderübergreifend immer gut funktioniert – und auch den Harzklub möchte ich hier nennen. Aber darüber hinaus war nicht viel. Ich denke, es brauchte einfach einige Zeit, vielleicht auch neue Gesichter in entscheidenden Funktionen. Außerdem hatte sich nach 25 Jahren auch das Niveau der öffentlichen Fördermittel nivelliert ...
... und vielleicht kamen Menschen, die weniger emotional mit den genannten „Nicklichkeiten“ verwoben waren?
Ja, genau. Und deshalb war vielleicht auch das Interesse wieder größer und die Zeit auch günstig für meine Idee. Es brauchte vermutlich nur jemanden, der den Anstoß gibt und sagt: Lass uns doch einfach mal zusammensetzen und sprechen. Das Erstaunliche nach nunmehr fünfundzwanzigeinhalb Jahren ist, dass diese Gruppe, die ich damals in Hahnenklee bei Axel Bender im Keller des Walpurgishofs im Grunde wild zusammengewürfelt hatte, nicht nur zusammengeblieben, sondern immer größer geworden ist. Eine Gruppe mit Menschen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kommunen, die gesagt haben: Unsere Herausforderungen sind so groß, unsere Städte, die Betriebe und Hochschulen aber klein – und wir leben alle nicht auf einer Insel, sondern können nur als Region denken. Und diese Region blickt eben nicht auf der einen Seite stets nach Magdeburg oder Erfurt und hier nach Hannover, sondern sie gehört hier im Harz zusammen.
Wer mischt bei der Ein-Harz-Initiative inzwischen alles mit?
Die drei Hochschulen, also Wernigerode, Nordhausen und die TU Clausthal, die regionale Wirtschaft – da möchte ich beispielsweise Anja Mertelsmann nennen vom Arbeitgeberverband Harz –, die Harz AG in Sachsen-Anhalt, Pro Goslar hier bei uns, IHK, Handwerkskammern, Mekom in Osterode, also Unternehmerverbünde, aber auch starke Einzelunternehmer. Motoren der Kommunen waren zunächst Bürgermeister Peter Gaffert aus Wernigerode, Klaus Becker aus Osterode, der damalige Oberbürgermeister Dr. Klaus Zeh aus Nordhausen und ich. Aber inzwischen sind es viele Bürgermeister und Bürgermeisterinnen mehr, die engagiert sind.
Und wie ist die Ein-Harz-Initiative genau organisiert?
Nun, am 9. September hat sich auch der Aufsichtsrat der neuen GmbH konstituiert. Die GmbH ist dabei eine hundertprozentige Tochter des länderübergreifenden Regionalverbandes Harz e.V.
Somit sind die Landkreise die Gesellschafter der Ein-Harz GmbH, und im Aufsichtsrat haben wir auch Wissenschaft, Wirtschaft und kommunale Vertreter abgebildet.
Blicken wir noch mal zurück auf das Ursprungsjahr 2014: Was konnte die Ein-Harz-Initiative seither schon bewegen? Was hat sie konkret schon auf die Schiene gebracht?
Ich bin mir sicher, dass das Harzer Urlaubsticket Hatix, das zum 1. Januar auch im West-Harz eingeführt wird, ohne die Ein-Harz-Initiative sicher nicht so schnell gekommen wäre. Auch wenn ich uns als Ein-Harz-Initiative nicht überbewerten möchte, aber wir haben da Schwung und Nachdruck bei den kommunalen Vertretern hineingebracht. Außerdem haben wir mit der Ein-Harz-Initiative gelernt, regionale Themen nicht nur in unseren Länder- und Landkreisstrukturen zu denken, sondern viel mehr Verständnis und Sensibilität füreinander zu haben. Und gerade das ist für mich das Allerwichtigste. Der entscheidende Erfolg der Ein-Harz-Initiative in diesen fünf Jahren ist, dass wir untereinander wissen, an welchen Themen Wirtschaft, Wissenschaft und Kommunen arbeiten. Derzeit beschäftigen wir uns zum Beispiel mit dem sehr starken Thema „E-Carsharing“ ...
... was ja von Nordhausen aus in die Debatte kam, wo E-Carsharing bereits läuft.
Ja, und jetzt eben der Gedanke, „E-Carsharing“ in Zukunft über den gesamten Harz miteinander zu vernetzen. Aber dann machen wir jetzt nicht in Goslar ein neues Projekt mit Machbarkeitsstudie daraus, sondern wir wissen: Hey, in Nordhausen haben die das doch schon – und wir kennen die. Dann können die Nordhäuser zu uns kommen, uns das Projekt erklären, und wir können entscheiden, ob wir diese Idee bei uns ausbauen.
Es könnte also gut sein, dass auch im Raum Goslar auf niedersächsischem Boden in Zukunft ein „E-Carsharing“ wie im thüringischen Nordhausen adaptiert wird?
Sagen wir es so: Das wurde in Nordhausen erfunden, die Stadtwerke in Nordhausen sind inzwischen der Träger, und wir arbeiten jetzt daran mit der TU Clausthal, dem Landkreis Goslar, mit der Stadt Wernigerode, den Stadtwerken und bei uns in Goslar mit der Stadtbus-Gesellschaft, bei der wir das Projekt wahrscheinlich verankern können, dieses Projekt für den gesamten Harz anzubieten. Bei allem Inseldenken, Nicklichkeiten und Wettbewerb auch zwischen den Kommunen lässt sich ein solches Projekt mit so vielen Beteiligten nur dann aufsetzen, wenn man sich untereinander kennt, mag und auch gut verträgt. Und genau das hat die Ein-Harz-Intiative geschafft.
Wie finanziert sich die neue Ein-Harz GmbH?
Die Landkreise haben das Stammkapital von 25.000 Euro für die GmbH bereitgestellt. Für jede Tätigkeit müssen wir uns ansonsten das nötige Geld besorgen. Wir haben jetzt zunächst ein Büro an der Hildesheimer Straße in Goslar in den Räumen der Harz-Energie, wir haben mit Frank Uhlenhaut einen Geschäftsführer, haben einen Prozess aufgesetzt für ein Corporate Design mit gemeinsamem Logo und eine Corporate Identity, wie es heutzutage heißt, und wir haben eine Homepage entwickelt, die wir bald freischalten. Das Geld, das wir dafür benötigen, werben wir ein.
Wo?
Bislang wurde unser Vorhaben ausschließlich aus der Wirtschaft unterstützt, nicht von den Kommunen oder den Hochschulen. Aber wenn wir künftig konkrete Projekte aufsetzen – wie etwa das „E-Carsharing“, dann bekommen natürlich auch die Kommunen etwas in ihr finanzielles Pflichtenheft. Aber all das hängt immer mit einem konkreten Projekt zusammen. Wir haben also keine institutionelle Grundförderung von Kommunen, Landkreisen oder Ländern.
Sind dennoch Fördermittel der Länder für übergreifende Projekte denkbar? E-Mobilität könnte doch ein Paradethema sein.
Ja, zweifellos. Wir hatten ja im vergangenen Jahr im Kloster Wöltingerode eine sehr gute Konferenz zusammen mit den Wirtschaftsministerien der drei Länder. Die drei Minister haben dabei bekräftigt, dass sie die Ein-Harz-Initiative befürworten und auch unterstützen wollen – zumal die übergreifende Initiative auch im jeweiligen Interesse der Länder ist. Aber die Länder wollen ganz konkrete Projekte, bevor sie Fördermittel zur Verfügung stellen.
Warum hat es mit der Gründung der GmbH so lange gedauert? Sie war ja schon 2017 ein Thema. Gab es viele Barrieren, obwohl man sich gut versteht?
Wir können ganz offen sagen, dass insbesondere aus Niedersachsen mancher kritisch eingeschränkt hat, wir gehörten doch zum Braunschweiger Land. Außerdem schwäche die Ein-Harz-Konstruktion doch die Landkreis-Ebene – das bräuchten wir alles nicht. Insbesondere aus Kreisen der Landräte heraus gab es nicht nur Hurra-Rufe. Aber als Initiative hatten wir ja auch keinen Zeitdruck: Die rechtliche Konstruktion war deshalb wichtig, weil wir eine Kasse und eine zentrale Organisation der Projekte brauchen. Außerdem wollten wir die Initiative unabhängig von Personen machen, denn das darf nicht sein: Wenn wichtige Impulsgeber irgendwann gehen – wie Anja Mertelsmann, Hans-Heinrich Haase-Fricke, Wernigerodes Bürgermeister Peter Gaffert, ein Oliver Junk oder ein Klaus Becker, der jetzt bald sein Amt als Bürgermeister von Osterode abgibt –, dann muss die Organisation der Ein-Harz-Initiative trotzdem Bestand haben. Sonst verläuft sich das wieder. Wir brauchten also einen institutionellen Rahmen, eine rechtliche Konstruktion, die trägt. Und genau an dieser Stelle haben wir lange überlegt – zumal wir auch die Landkreise unbedingt als Partner haben wollten.
Ein wichtiger Punkt ist, dass die Harz-Region, die es als Einheit bislang so nicht gibt, wirtschaftlich stärker zusammenwächst. Vielfach fehlt es ja schlicht an Wissen: Wer könnte Kunde sein, wer ein Zulieferer? Wo können wir zusammenarbeiten? Wie würden Sie momentan diese wirtschaftlichen Verbindungen im Harz einschätzen? Und wie sollten sie in den nächsten zehn bis 20 Jahren werden?
Vor 20 Jahren haben wir vielleicht gesagt: Da ist unser Wettbewerber, der nimmt uns mit Riesensubventionen die Aufträge weg. Heute aber begreift Wirtschaft, wenn wir etwa in den Bereich Ilsenburg und Wernigerode schauen, dass da Kunden sind – und umgekehrt. Von daher stimmt es einfach nicht, Wirtschaftsbeziehungen etwa von Goslar aus immer nur mit Braunschweig zu verbinden. Das bildet sich in der Realität doch so nicht ab, und ich spüre das auch bei vielen Firmenbesuchen. Hinzu kommt eine ganz erhebliche Pendlerbeziehung zwischen West- und Ostharz.
Von Wernigerode nach Goslar, aber auch umgekehrt.
Beides – und ganz erheblich. Das funktioniert über die B 6n oder A 36 ja auch super. Mir ist dabei wichtig, dass wir bei all unseren bestehenden Unternehmer-Netzwerken nicht immer nur untereinander im Landkreis Goslar verbinden – oder wieder das Lieblingsthema von so vielen in unserer Region, nämlich Goslar mit Braunschweig zu verbinden. Wir sollten Goslar genauso selbstverständlich mit Osterode verbinden wie mit Wernigerode, mit Nordhausen oder Halberstadt. Genau daran möchte ich einfach arbeiten – allein schon, weil unsere Themen so ähnlich sind.
Nämlich die von Mittelzentren im ländlichen Raum.
Ja, wir sind in der Mitte Deutschlands, es ist ländlicher Raum, es geht um Fachkräfteprobleme, darum, wie attraktiv dieser ländliche Raum in Zukunft ist, auch für junge Menschen. Machen wir Rückkehrer- oder Kommt-wieder-Kampagnen? Aber Goslar allein ist so klein, wir werden doch niemals eine zugkräftige Image-Kampagne allein für Goslar entwickeln können, die dann auch deutschlandweit strahlt. Niemals.
Aber gemeinsam vielleicht für die Harz-Region.
Ja, wenn wir eine tolle Image-Kampagne für unsere Wirtschaft entwerfen, und alle etwas hineingeben, dann geht‘s. Ich halte genau dies für ein ganz zentrales Thema, und das können wir auch nicht von Braunschweig aus organisieren lassen. Die Stadt hat doch ganz andere Herausforderungen: Die Themen in Braunschweig, Salzgitter, Wolfsburg oder auch Hannover unterscheiden sich deutlich von den Themen in Goslar. Mit Wernigerode oder Nordhausen haben wir dagegen erheblich mehr Schnittstellen. Wir brauchen in Zukunft einfach wieder eine deutlich stärkere Konzentration auf die Mittelzentren als Anker für die Menschen.
Ein Thema noch, das die Harzer über alle Grenzen verbindet – die trockenen Wälder, die Borkenkäferplage und der Nationalpark. Derzeit haben wir einen heftigen Streit, mancher Forstmann oder ehemalige Forstmann vermutet sogar, es gäbe eine gezielte Strategie, den Wald auf niedersächsischer Seite absterben zu lassen, damit der Ost-Harz profitiert. Wie ist Ihr Standpunkt dazu?
Bei allem Respekt: Da nervt mich derzeit der ein oder andere Forstmann. Wir sollten nicht vergessen, dass es tatsächlich eine andere Zeit war, in der diese Förster Verantwortung getragen haben. Die Fichten waren deutlich jünger, sie waren noch nicht durch unzählige Orkane in der Wurzel geschädigt – und die Bäume hatten mehr Wasser. Eine Unterstellung, die heutige Generation in der Verantwortung könne es nicht, sei zu dumm, um den Borkenkäfer zu bekämpfen, halte ich für unredlich und ungerecht. Es gab eine große politische und länderübergreifende Entscheidung für einen Nationalpark – mit allen Vorteilen, aber mittlerweile auch Nachteilen durch die aktuelle Situation. Vielleicht hat der Nationalpark unterschätzt, wie viel Emotion in diesem Thema der abgestorbenen Bäume steckt. Aber der Wald ist nicht tot, und wer mit offenen Augen unterwegs ist, der sieht, dass dort auch wieder neuer Wald entsteht. Die Fichtenmonokulturen passen ganz einfach nicht mehr in diese Welt. Und das hat auch etwas mit dem Klimawandel zu tun. Trotzdem kritisiere ich heute niemanden, der diese Fichten vor Jahren und Jahrzehnten dort gepflanzt hat. Der Wirtschaftswald stand noch viel stärker im Vordergrund, und die Fichte war der Brot-und-Butter-Baum.
Wir sehen es auch im Goslarer Stadtwald, dem größten kommunalen Forst in ganz Niedersachsen: Der Borkenkäfer trifft uns erheblich und wird uns allein dieses Jahr 800.000 Euro Verlust bescheren. Das Holz ist nichts mehr wert, wir müssen es rausziehen, damit sich der Borkenkäfer nicht noch weiter ausbreiten kann. Aber die Lage ist so, wie sie ist. Da ist der Nationalpark jetzt gefordert, den Menschen mehr zu erklären, und auch wir Kommunen müssen mehr tun, um zu erläutern, was da gerade passiert. Aber die Zahlen beweisen auf der anderen Seite auch eindeutig, dass kein einziger Tourist weniger kommt wegen der abgestorbenen Bäume. Es entsteht ein neuer und anderer Wald, und da wünschte ich mir an der ein oder anderen Stelle einfach ein Stück mehr Gelassenheit.
"Etwas Besseres hätte uns nicht passieren können“: Für den Bad Harzburger Bauherrn Dirk Junicke ist die nun 30Jahre zurückliegende Grenzöffnung ein Ereignis, das ihn weiter auch emotional bewegt. Zudem jedoch haben sich für den Investor Junicke in jenen Novembertagen 1989 neue Welten eröffnet: „Es war eine Initialzündung, die Region für die eigene Entwicklung neu zu definieren.“
Die Aktivitäten der Firma Junicke, in der die nächste Generation mit Julius, Carl Jobst und Sophie das Ruder übernimmt, hatten sich über Jahrzehnte auf Bad Harzburg konzentriert. Geschäftlich, als Spender und Ideengeber wertete Dirk Junicke das Bild seiner Heimatstadt wie auch jetzt wieder mit dem neuen „Looges“-Projekt in der Papenbergstraße nachhaltig auf. Sinnbild dafür ist der von ihm initiierte Jungbrunnen, heute das Wahrzeichen der Kurstadt.
Mit der Grenzöffnung rückten „neue und spannende Felder“ in den Blick. Eine maßgebliche Rolle spielte die Bad Harzburger Partnerstadt Ilsenburg, in der die Firma Junicke fünf Häuser in drei Gebäuden errichtet hat. Ilsenburg ist für Dirk Junicke weiter ein interessantes Pflaster, es gebe kaum eine Stadt, in der der Aufschwung so fulminant eingetreten sei. Große Unternehmen wie die Ilsenburger Grobblech oder die ThyssenKrupp Presta siedelten sich an und schreiben die Historie des Wirtschaftsstandortes fort.
In diesem Fahrwasser wurde Ilsenburg auch für andere Branchen interessant. Und Junicke entschloss sich mit Partnern, durch zeitgemäße Bauten den Wohnwert der Stadt an die Bedeutung des Industriestandorts anzupassen.
Auch in Sachsen ist „Junicke & Co.“ aktiv – und definiert zudem seit Jahren rund um Bad Harzburg ihr Tätigkeitsfeld neu. Die Kaiserstadt Goslar wurde mit imageträchtigen Vorhaben wie dem Umbau der Realschule „Hoher Weg“ entdeckt, in Wolfenbüttels schöner Altstadt wird ein Projekt realisiert, und auch Braunschweig ist im Fokus. Dass sie mit ihrem Regionsgedanken nicht allein steht, erfährt Familie Junicke tagtäglich über ihre touristischen Aktivitäten mit dem „Aussichtsreich“ auf dem Burgberg und dem „Plumbohms“ im Herzen Bad Harzburgs. „Die Ländergrenze spielt in den Köpfen der Gäste absolut keine Rolle“, konstatiert Dirk Junicke: „Die sehen den Harz als attraktive Einheit, die er auch tatsächlich sein muss.“
Der Eiserne Vorhang wurde zum Grünen Band. Was ehedem die Welt trennte, verknüpft sie nun und schafft Wachstum. Zum einen, weil die Natur sich zurückholt, was die Jahrzehnte entlang der deutsch-deutschen Grenze ihr genommen hatten. Zum anderen aber auch ökonomisch: Das Grüne Band ist ein touristisches Pfund, mit dem vor allem auf dem Wander- und Radtouren-Markt trefflich gewuchert werden kann.
Ein Beleg neben vielen Besuchern auf dem ehemaligen Grenzstreifen ist das nie versiegende und zum 30. Jahrestag der Grenzöffnung wieder besonders aufflammende Interesse der Medien. Und zwar der Medien weltweit. Erst im September war ein südkoreanisches Fernsehteam im Harz unterwegs und richtete den Fokus der Kameras auf das Grüne Band. „Einst Todesstreifen, heute Biotop“, meldete Deutschlandfunk Kultur. Einen anderen Schwerpunkt setzte erst Anfang September die „Welt“ („Früher Todesstreifen, heute Radweg“) und liegt damit auf der gleichen Linie wie das Handelsblatt, das das Grüne Band zu den „schönsten Radstrecken Deutschlands“ zählt.
Letztlich sind all diese Beschreibungen korrekt. Der ehemalige Grenzstreifen hat sich zu einem stark frequentierten Erholungsbereich für Wanderer und Radfahrer entwickelt. Und er wurde dies nicht zuletzt, weil er zugleich mit fast 1400 Kilometer Länge der längste länderübergreifende Biotopverbund in Deutschland ist. Ein unvergleichlicher Streifen Natur, der allerdings in seiner kompletten Nord-Süd-Ausdehnung immer noch zu schließende Lücken aufweist.
Am 9. Dezember 1989, nur einen Monat nach dem Mauerfall, wurde diese erste gesamtdeutsche Naturschutzinitiative federführend vom BUND zusammen mit weiteren ost- und westdeutschen Organisationen als „Grünes Band“ in Hof ins Leben gerufen. Heute hat das Grüne Band sogar über Europa hinaus Vorbild für Biotopverbundkorridore und soll als Nationales Naturmonument unter Schutz gestellt werden. Eine wichtige Aufgabe, an der Umweltschützer und Politik mit Blick auf die Zukunft des Grünen Bandes noch gemeinsam zu arbeiten haben – und deren Umsetzung bisweilen auch entzweit, wie in Sachsen-Anhalt fast die „Kenia-Koalition“.
„Aktuell ist das Grüne Band auf 170 Kilometer Länge noch immer zerstört, insbesondere durch intensive landwirtschaftliche Nutzung. Das Schließen der Lücken ist die große Herausforderung, erschwert durch kleinräumige Besitzverhältnisse, Nutzungsdruck von benachbarten Flächen und dem derzeitigen massiven Flächenhunger“, betont Prof. Dr. Kai Frobel, Initiator des Grünen Bandes und Artenschutzreferent des BUND in Bayern. Es ist eine Herausforderung, die gerade im Harz erkennbar die Mühe lohnt. Neben dem Harzer-Hexen-Stieg als „Qualitätsweg Wanderbares Deutschland“ und als einer der „Top Trails of Germany“ blüht das Grüne Band auf dem ehemaligen Grenzstreifen als Naturraum und gleichermaßen als touristisches Zugfperd immer mehr auf.
Diesen Moment werden die Zöllner, die in der Nähe auf Streife waren, nie vergessen. Ihr Leben lang nicht. Es ist der 11.März 1966 im Tal der Warmen Bode, 15.48 Uhr – plötzlich zerreißt eine Detonation die Stille des Harzes. Schwarzer Rauch steigt auf am Minenzaun des Todesstreifens. So eben hat ein Mensch, der aus der DDR in den Westen flüchten wollte, eine Minenexplosion ausgelöst. Es ist Klaus Schaper, sein Körper liegt leblos im Minenfeld. Er ist einer von 27 Menschen, die durch die Grenze auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts im Raum Harz ihr Leben verloren. Viele Jahre erinnerte ein Kreuz an sein Schicksal, bis es verschwand. Jetzt stehen im Tal der Warmen Bode zwei neue Kreuze, die Mitglieder des Grenzerkreises Abbenrode errichteten, um an die Schicksale der Getöteten zu erinnern.
Die Freie Universität Berlin hat im Rahmen eines Forschungsprojekts Todesfälle an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze untersucht und die Schicksale der ums Leben gekommenen Männer, Frauen und Kinder rekonstruiert. Darunter befinden sich zwei tödliche Unfälle, die sich 1964 und 1966 im Grenzbereich zwischen den Harzorten Elend und Braunlage ereigneten. Durch Minen starb dort nicht nur Klaus Schaper, sondern auch zwei Jahre zuvor der DDR-Bürger Peter Müller. Beiden setzte das Kuratorium Unteilbares Deutschland in den 1960er Jahren gegenüber der Unglücksstellen auf Bundesgebiet eiserne Gedenkkreuze.
„In den Jahren, als die Grenze noch Deutsche von Deutschen trennte, täuschte die Idylle im Tal der Warmen Bode. Grenzbeamte von BGS und Zoll informierten deshalb im Rahmen ihrer Aufgaben im Westen über die Gefahren, die von dieser Grenze, den Minenfeldern und Selbstschussanlagen ausgingen. In der DDR waren diese Kenntnisse nur für Insider verfügbar“, berichtet Uwe Bremer, einer der Initiatoren der Gedenkkreuz-Aktion anno 2019.
Sichtbares Zeichen dafür, dass Flüchtlinge Opfer dieser Tötungsautomaten wurden, sollten in der Bundesrepublik für Harzwanderer über den Zeitraum von Jahrzehnten diese Gedenkkreuze sein. „In den Jahren nach der Wiedervereinigung gingen beide Kreuze verloren und so genau kann man nicht mehr sagen, wie und wodurch sie abhanden kamen. Als ersten Ersatz ließ der Braunlager Revierförster Harald Laubner ein hölzernes Kreuz fertigen, das inzwischen vom Verfall gezeichnet ist. Auf Initiative ehemaliger Zollbeamter, die in diesem Grenzbereich ihren Dienst verrichtet hatten und beide Kreuze und deren Standorte noch kannten, startete im Winter 2018/2019 das Projekt zur Wiederaufstellung der Kreuze nach altem Vorbild“, erzählt Bremer. Die drei Zöllner sind Mitglieder des Grenzerkreises Abbenrode. Das ist ein Zusammenschluss von zumeist ehemaligen Harzer Zöllnern und Bundesgrenzschützern aus dem Westen und einstigen Angehörigen der DDR-Grenztruppen aus dem Osten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Schrecken der deutsch-deutschen Teilung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die zunächst dreiköpfige Projektgruppe skizzierte, wie in etwa die alten Kreuze aussahen und welche Maße sie hatten. Altes Fotomaterial bot die Grundlage. Einziger Unterschied zum Original sollte sein, dass keine zusätzliche Gravurplatte für den Namen und das Todesdatum der Opfer aufgebracht sein sollte. Eine Firma fertigte aus Corten-Stahl die Kreuze, die Beschriftung ist mittels modernster Technik eingefräst. Unterstützt hat das Projekt die „Stiftung Rechtsstaat Sachsen-Anhalt“. Informationen zu den Grenztoten finden sich auf ebenfalls aufgestellten Tafeln in Form einer Dennert-Tanne, die harztypischen Infotafeln. So eine steht auch neben dem Gedenkstein für den an der Grenze erschossenen Helmut Kleinert in Hohegeiß, so Bremer.
„Der Harz war für Fluchtwillige ein interessantes Gebiet“, erzählt Bremer, „er bot Deckung und mit Brocken oder Wurmberg auch Orientierungspunkte.“ Aber oftmals seien die Distanzen, die es zu überwinden galt, um voran zur Grenze zu kommen, von ihnen unterschätzt worden, weiß Bremer aus Berichten von Geflüchteten.
Die Statistik basiert auf dem Buch von Klaus Schroeder und Jochen Staadt (Herausgeber) „Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989“.
Hornburg. Wenn Peter Hanke von seinem früheren Beruf erzählt, ist die Verwunderung groß: Hanke war Zollbeamter und sein Einsatzgebiet war die innerdeutsche Grenze. Also jener Todesstreifen, über den normalerweise kein Mensch kam. Und wenn es doch einmal einer schaffte, dann war die vorrangigste Frage wohl kaum die, ob er Waren dabei hatte, die zu verzollen gewesen wären.
Hankes Einsatzgebiet war 40 Kilometer lang. Es begann bei der Schwarzen Brücke in Schladen, also der Stelle, an der die heutige Bahnlinie von Braunschweig nach Bad Harzburg auf Vienenburger Gebiet trifft. Und endete im Osten bei Söllingen. Er war nicht gerade erfreut, als ihm 1971 als Zollbeamten Aufgaben des Bundesgrenzschutzes übertragen wurden. „An der Grenze war die Welt zu Ende“, berichtet er. Doch weil sein Lebensmotto ist, alles positiv zu sehen, stellte er sich der neuen Aufgabe und entdeckte bald, wie interessant sie sein kann.
Er hatte Personen zu überprüfen, die sich vom Westen der Grenze näherten und den Eindruck machten, als wollten sie die Warnschilder des Bundesgrenzschutzes ignorieren. Hanke ließ sich dann die Ausweise zeigen, überprüfte die Personalien und wies auf die Gefahren eines Grenzübertritts hin. „Am Vatertag war es eine beliebte Mutprobe, den 20 oder 30 Meter breiten Streifen vor dem Metallgitterzaun zu betreten“, weiß Hanke.
Spannender als die Personenüberprüfungen aber waren die Begegnungen am Zaun mit den ostdeutschen Kollegen. Im Frühjahr 1984 bahnte sich ein Kontakt an, der mehr als zwei Jahre halten sollte. Von ostdeutscher Seite aus fotografierten zwei Männer Landwirte, die im Westen Strauchschnitt für das Osterfeuer ablegten. Hanke war mit auf dem Bild und verlangte: „Davon kriege ich einen Abzug.“ „Den kannst Du haben“, bekam er prompt zurück. „Das war merkwürdig. Normalerweise machten die den Mund nicht auf“, erinnert sich Hanke, der nach Hornburg gezogen war. Einige Wochen später traf er die Zwei wieder. Sie kamen auf Hanke zu und überreichten im tatsächlich das Bild, das sie von ihm gemacht hatten.
Hanke hatte über derlei Vorgänge umgehend Bericht zu erstatten und erfuhr, dass es sich bei den beiden Männern um Grenzaufklärer handelte: „Die sollten versuchen, mit dem Westen in Kontakt zu kommen und haben gemerkt, dass ich kontaktfreudig war.“ Hanke erhielt Instruktionen für den Umgang mit dem Duo, das ihn wiedersehen wolle. In einer Munitionsdose, gut versteckt in einem Baumstumpf, hinterließen die Aufklärer Nachrichten und kündigten ihr nächstes Treffen an. Zur Freundschaftspflege brachten sie Hanke, der sich als Sammler von Eulen-Miniaturen geoutet hatte, einmal eine kleine Holzeule mit, ein andermal eine Mütze. „Ich habe mich mit einer Illustrierten revanchiert und einer Otto-Cassette, die ich überspielt habe“, erinnert sich Hanke. Straßenkarten, für die sich die Aufklärer ebenfalls interessierten, rückte er nicht raus.
Nach zwei Jahren kündigte Hanke an, zu keinen Treffen mehr zu kommen. „Das wirst Du noch bereuen“, hieß es da. Aus Angst, an der Grenze plötzlich „einkassiert zu werden“, galt fortan die Anweisung, auf Abstand zu bleiben. Die Mühe der Grenzaufklärer, den Kontakt wiederherzustellen, war vergebens – auch wenn sie beim nächsten Wiedersehen Hanke eine ausgestopfte Schnee-Eule entgegen hielten.
Hanke hat viel erlebt und entsprechend viel zu erzählen. Nur zum Mauerfall kann er keine Insider-Geschichten beitragen. „Da war ich in New York, weil ich am Marathon teilnehmen wollte“, erzählt er und bekommt noch immer eine Gänsehaut, wenn er an die Bilder denkt, die er dort im Fernsehen sah. Bei seiner Rückkehr war alles anders: „Hornburg war eine Trabbistadt unter einer großen Dunstglocke.“
Für den Zollbeamten sind die Tage in Hornburg gezählt. Er wird versetzt zur Zollabfertigung nach Hamburg, dann nach Hannover und schließlich zum Hauptzollamt in Braunschweig. Seinem Hornburg aber blieb er treu. Heute gibt er seine Erfahrungen an Schulklassen weiter, die den Grenzlandraum im Hornburger Heimatmuseum besuchen. Zwischen original Metallgitterzaun, Warnschild und Grenzmarkierungen berichtet er über die außergewöhnliche Arbeit eines Zollbeamten an der innerdeutschen Grenze.
Nordharz. Diese „Beziehung“ endet nie – sein Haar ist mittlerweile so grau wie der Grenzzaun: Der Eiserne Vorhang bestimmt sein Leben – einst und jetzt wieder, wo es ihn zum Glück nicht mehr gibt. Als Bundesgrenzschützer war Lothar Engler in Goslar stationiert, alles drehte sich damals um die DDR-Grenze. Die ist nun seit fast drei Jahrzehnten weg – doch jetzt als Pensionär bestimmt sie sein Leben wieder. Als einer der Initiatoren des Grenzerkreises Abbenrode widmet er sich der Aufgabe, die Schrecken des Todesstreifens und der deutsch-deutschen Teilung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Dabei hatte er mit der Grenze längst abgeschlossen. Bis 2011. Damals traf er Wolfgang Röhl, ebenfalls ehemaliger BGSler. Der begann damals, eine Internetseite zum Thema BGS und DDR-Grenze aufzubauen. Er suchte Menschen, die rund um dieses Thema was erlebt hatten, die Fotos besaßen. Bei Engler war er an der richtigen Stelle.
Zehn Jahre nach der Grenzöffnung zwischen Stapelburg und Eckertal hatte der gebürtige Lochtumer seine Erlebnisse aufgeschrieben. Acht Wochen war er damals vertretungsweise Chef des Technischen Einsatzzuges des BGS in Goslar – in diese Zeit fiel der 11. November 1989. Der Tag, der im Harz fast alles veränderte.
Engler setzt sich seit Jahren für das Grenzdenkmal Wülperode ein – einer der wenigen Orte im Nordharz, an dem noch ein Stück DDR-Grenze stehen geblieben ist.
„Es war ein Samstag. Nichts, aber auch rein gar nichts hatte sich am Freitag zuvor angedeutet, dass sich in Stapelburg Historisches ereignen könnte“, erinnert sich Engler. Die erste und einzige ungeplante Öffnung der innerdeutschen Grenze. Und so ging er an jenem Freitagnachmittag im November ’89 nach Hause. Bei bestem Wetter mauerte er an jenem denkwürdigen Samstag an seiner Garage, als plötzlich der Schwiegervater um die Ecke kam. „Was machst Du denn noch hier? Die machen doch in Eckertal die Grenze auf, haben sie im Radio vermeldet“, überraschte er mittags Engler mit einer Nachricht, die ihm die Kinnlade nach unten fallen ließ. „Verbreitet hat diese Nachricht damals ffn um 11.40 Uhr, wie es dazu kam, weiß keiner mehr so genau“, so Engler. Er hat sich Jahre später auf die Spur des damaligen Moderators begeben, der das über den Äther schickte – aber groß weiterhelfen konnte auch er nicht.
Der Rest ist Legende, Englers Einsatz und der vieler anderer begann. „Die Hintergrundmusik zu diesem Weltereignis war das Summen der Notstromaggregate“, erinnert er sich. Engler hat es heute in den Ohren. „Heulen, Freudentränen, Kneif-mich-mal-Aufforderungen, ploppende Sektflaschen“, fasst er die Nacht zusammen. Fast wie im Trance vergingen die Stunden – Dauerdienst bis Montag.
Der Trance folgte die Normalität – „und es war erst mal Schluss mit dem Antrieb, sich um die DDR-Grenze, die nun Geschichte war, zu beschäftigen“, plaudert er. Bis Röhl kam. „Er hat das Feuer neu entfacht.“ Und warum? „Wir sind die letzte Generation, die das noch erlebt hat. Wir müssen unsere Erfahrungen weitergeben an jüngere Generationen, damit so etwas nie wieder passiert“, sagt er.
Engler begab sich auf die Suche nach altem BGS-Material, um das Erlebte dokumentieren zu können, begann, so wie es Röhl zuvor schon getan hatte, Grenzwanderungen anzubieten, entlang des Grünen Bandes von Grenzgeschichten und Opfern zu erzählen. Die Gründung des Grenzerkreises folgte, bei dem ehemaligen Bundesgrenzschützer und Zöllner aus dem Westen und Angehörige der DDR-Grenztruppen sich untereinander austauschen und Geschichte aufarbeiten, als Zeitzeugen in Schulen gehen. Oder als Referenten durch die Lande ziehen.
Jetzt, zum runden Geburtstag von Mauerfall und Grenzöffnung, war er für viele Anfragen von Funk und Fernsehen die erste Adresse. Alles prasselte auf ihn ein. „Manchmal fühlte ich mich wie ein Hamster im Rad. Aber der Ausgang vom Rad ist versperrt und den Schlüssel dazu hat jemand weggeworfen. Jetzt komme ich aus der Nummer nicht mehr raus“, lacht der 64-Jährige.
Und natürlich macht er weiter: Erst recht nach den Vorfällen vom vergangenen Wochenende, als unbekannte Täter das Grenzdenkmal Wülperode, für das er sich seit Jahren einsetzt, geschändet haben. „Jetzt erst recht“, holt er zur Trotzreaktion aus. Das Gedenken an die DDR-Grenze und die Toten, die sie forderte, darf nicht in Vergessenheit geraten.
Bad Harzburg. Beeindruckend demonstrierten die Menschen aus Niedersachsen und Sachsen-Anhalt am Montag an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zwischen Eckertal und Stapelburg das, was Gerald Fröhlich, Bürgermeister der Gemeinde Nordharz, in seiner Festansprache sagte: „Wir haben das miteinander geschafft.“ Hunderte kamen dort zusammen, wo auf die Minute genau dreißig Jahre zuvor der Eiserne Vorhang im Harz fiel. Beziehungsweise von den Menschen niedergerissen wurde.
Anlässlich des 30. Jahrestages der Grenzöffnung hatte die Gemeinde Nordharz zusammen mit den Stapelburger Vereinen und Organisationen die alljährliche Feier am Grenzdenkmal besonders üppig ausfallen lassen.
Kleiner Wermutstropfen: Die Informationen rund um die große Festveranstaltung waren auf westlicher Seite nur rudimentär angekommen. Die Kunde vom traditionellen Sternmarsch beispielsweise hatte sich in Bad Harzburg mehr durch Mundpropaganda verbreitet. Und so war der Umzug aus Eckertal überschaubar.
Aber das Timing passte: Kurz vor 16 Uhr, also genau zu der Zeit, zu der damals die ersten DDR-Bürger durchs kleine Loch im Zaun schlüpften, trafen West und Ost an eben dieser Stelle zusammen. Gleich drei Festredner hatten die Organisatoren gewinnen können: Bad Harzburgs Bürgermeister Ralf Abrahms, seinen Amtskollegen Gerald Fröhlich aus der Gemeinde Nordharz und Horst Voigt, in den Jahren der Grenzöffnung Bad Harzburgs Stadtdirektor. Auch Sachsen-Anhalts Umweltministerin Prof. Dr. Claudia Dalbert steuerte ein kurzes Grußwort bei.
Fröhlich sprach vom Zusammenwachsen und davon, dass man nicht (mehr) zwischen Ossis und Wessis unterscheide. „Wir sind Menschen, die durch ein gemeinsames Gefühl verbunden sind.“ Stück für Stück würden alle zum Ziel der deutschen Einheit beitragen – denn der Prozess dorthin sei noch lange nicht abgeschlossen. „Tage wie dieser dienen als Stolpersteine, uns unserer Rolle als Gestalter bewusst zu werden.“ Ralf Abrahms erinnerte – wie auch später Horst Voigt – an die Jahre, als die Bad Harzburger noch mit beziehungsweise später ohne Grenze lebten. Abrahms erst als Jugendlicher, der im Schimmerwald Abenteuer erlebte, und später (nach Grenzöffnung) als Wirtschaftsdezernent in Halberstadt arbeitete.
Und Horst Voigt erzählte von seinen Erlebnissen als verantwortlicher Verwaltungschef, der in Bad Harzburg aus dem Stand heraus dem Ansturm der Zehntausende von DDR-Bürger bewältigen und organisieren musste.
Harz/Ilmenau. Der Moment, als sich am 3. Dezember 1989 die Brockenmauer öffnete, wird oft beschrieben. Der Harzklub erinnert alljährlich zu seiner Feierstunde auf dem Gipfel daran: Tausende Menschen strömten nach einem Aufruf der Bürgerbewegung Neues Forum hoch. „Freie Bürger, freier Brocken“ lautete das Motto.
Wie aber war es, als der Brocken abgeriegelt wurde? Einer, der sich erinnert, ist Professor Klaus-Dieter Sommer. Der 68-Jährige aus dem thüringischen Ilmenau sagt von sich, er war „der letzte freie Besucher 1961 auf dem Brocken“. Der pensionierte Ingenieur und Honorarprofessor an den Universitäten Braunschweig, Erlangen und Ilmenau ist klug genug, darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Zuspitzung handelt. Falsch ist sie wohl nicht. Tatsächlich gehörte er zu den letzten Besuchern und könnte der letzte Brockenausflügler gewesen sein, bevor der Berg gesperrt wurde.
Sommer war neun Jahre alt, als er einige Tage in einem Ferienlager in Wernigerode verbrachte. Sein Vater war als Betreuer dabei. Mitte August, das genaue Datum kennt er nicht mehr, ging es auf den Brocken. Sommer erinnert sich, dass sein Vater von dort auf das nahe gelegene Torfhaus zeigte. Den Westen hatte er gut in Erinnerung, weil er zuvor während der Ferien mit den Eltern von Dessau an die Ostsee gefahren war. Auf der Rückfahrt gab es am 11. August einen Halt in West-Berlin am Bahnhof Zoo. Die Mauer war noch nicht gebaut. Aussteigen war verboten, aber möglich. In Geschäften im Bahnhof sah der kleine Klaus-Dieter Berge von Bruchschokolade und vieles andere, das er nicht kannte. Auch Rolltreppen entdeckte er zum ersten Mal. Und er bekam Spielzeug, das es in Ostdeutschland nicht gab. Auf der Weiterfahrt nach Dessau versteckte er es in seinen Hosentaschen. Die Visite im Westen hatte ihn beeindruckt. Beide Eltern waren berufstätig. Seine Großmutter, die ihn oft betreute, erzählte ihm später, er habe zunächst gar nicht darüber gesprochen, dann aber „ganz viel“.
Mit diesen Bildern von Westbesuch im Kopf stand der Neunjährige auf dem Brocken und schaute nach Torfhaus. Dann ging er aus Neugierde und Entdeckerlust vom Gipfel einen Hang hinab Richtung Westen, während sich seine Gruppe zur Rücktour sammelte. 50 oder 70 Meter weit war er gelaufen. Dann hielt ein Kübelwagen vor ihm mit Angehörigen von Kampftruppen der Arbeiterklasse, eine paramilitärische Organisation von Arbeitern aus DDR-Betrieben. Sie sollten die Herrschaft des Proletariats militärisch sichern.
„Wo willst du hin“, fragte einer der Männer. Angst hatte Sommer nicht. „Ich fand das todschick mit den MPs“, sagt er im Rückblick über die bewaffneten Einheiten. Die Aufpasser brachten ihn zu seiner Gruppe, die bereits dabei war, sich zum Abstieg aufzumachen.
Es war wohl ein historischer Moment. Die Brockenbahn hatte die Schüler auf den Gipfel gefahren. Die Rückfahrt war nicht mehr möglich. Sommer wurde vermutlich als letzter Besucher vom Brocken eingesammelt, bevor das Areal eingezäunt und zum Sperrgebiet erklärt wurde. „Am nächsten Tag war es dicht. Wir mussten runter durch den Wald“, sagt Sommer, wenn er sich an seinen besonderen Brocken-Moment erinnert. Über die Steinerne Renne ging es nach Schierke.
Klaus-Dieter Sommer ist später beruflich in den Westen gekommen. 1990 wurde der promovierte Ingenieur Leiter eines Laboratoriums an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, bevor er 1994 als Direktor des Landesamtes für Mess- und Eichwesen nach Thüringen zurückkehrte. An den Wochenenden fuhr er regelmäßig in das heimatliche Ilmenau. Braunschweig und Sommers Wohnort sind durch die B4 verbunden. Auf seiner DDR-Landkarte gab es jedoch eine Lücke bei Hohegeiß. Daher fuhr er diese Strecke zunächst nicht.
Ende September 1990 entschied er sich doch, über den Harz nach Ilmenau zu fahren. Sommer schildert seine Eindrücke in bewegenden Worten: „Es war sehr emotional für mich. Von Bad Harzburg ging es hoch nach Torfhaus. Noch vor den letzten Kurven sah ich die damals gewaltigen Fernsehsender-Antennen, und in meinem Kopf erschien das nachmitternächtliche Testbild der ARD, das wir in Dessau und Magdeburg spät nachts zu sehen bekamen, mit den drei Worten Sendeschluss und Sender Torfhaus. Nun ja, und dann der Brocken im gleißenden Sonnenschein. Ich glaube, ich verbrachte mehr als zwei Stunden am Parkplatzrand mit Blick auf den Brocken. Ab und zu musste ich mir über die Augen wischen.“
Von 2007 bis 2014 pendelte Sommer nochmals wöchentlich zwischen Ilmenau und Braunschweig, er leitete nun eine Abteilung in der Bundesanstalt. 2012 wurde er zudem zum Honorarprofessor an der TU Braunschweig bestellt. Sommer sagt über diese Touren: „Fast immer hielt ich in Torfhaus an, um einen Blick auf den Brocken oder die ihn umgebende Wolkenwand zu werfen.“
Von 1952 an wurde die innerdeutsche Grenze mit Zäunen, Bewachung und Alarmvorrichtungen gesichert. 1961 verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der DDR, die Versorgungsprobleme nahmen zu. Vor diesem Hintergrund wurde am 13. August 1961 die Berliner Mauer errichtet. Am
11. August hatte eine Konferenz der Parteisekretäre auf Nachdruck Moskaus erklärt, wegen des steigenden Flüchtlingsstroms den Ostsektor in Berlin früher als geplant abzuriegeln. Die Berliner Mauer ergänzte die innerdeutsche Grenze. Der innere Ring auf dem Brockenplateau wurde ebenfalls 1961 zum Sperrgebiet. Aus Büchern über den Brocken ist zu entnehmen, dass die Absperrung offenbar in den Tagen nach dem Mauerbau vollzogen wurde.
Quellen: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Wikipedia.
Oberharz. Am 9. November 1989 begannen die Mauern, die Deutschland einst teilten, zu bröckeln. Alle bis auf eine: Die Grenze, die den Brocken umgab, blieb noch bis zum 3. Dezember komplett intakt. Der Clausthal-Zellerfelder Fotograf Hansjörg Hörseljau dokumentierte diese Zeit sehr intensiv mit seiner Kamera.
Es beruhte auf einen Zufall, dass er überhaupt bei der Brockenöffnung dabei war. Damals war Hörseljau mit einem Unterweltschützer auf dem Weg zu einem bundesweiten Kongress in Göttingen. Im Auto erzählte ihm dieser von dem Sternmarsch zum Brocken, der für den3. Dezember geplant war. „Ich habe sofort gesagt, ‘da komme ich mit’, erinnert sich der heute 59-Jährige. Bei dieser Zusage war ihm noch gar nicht klar, welche große Kreise der Brockenlauf ziehen würde.
Mit wie vielen Menschen er an dem Sonntag in Ilsenburg startete, weiß er nicht mehr, aber es sei eine ansehnliche Zahl gewesen. Auf dem Weg stießen immer mehr Leute dazu, bis es schließlich mehrere Tausend waren. An der Einmündung zur Brockenstraße trauten alle ihren Augen nicht. „Grenzsoldaten haben dort für eine Mark Bockwürste mit Brot verkauft“, erzählt Hörseljau.
Der Snack konnte die Menschen jedoch nur kurz besänftigen. Sie haben sich alle vor der Brockenmauer gesammelt, wurden ungeduldiger und lauter. Um 12.47 Uhr, Hörseljau weiß noch die Uhrzeit, öffnete der diensthabende Major das Tor zur Brockenmauer. Ansonsten hätten die Demonstranten die Anlage gestürmt.
Und Hansjörg Hörseljau war an diesem bedeutsamen Tag der Geschichte mitten in der Menschenmasse. Er hat alle fotografiert. Das war ihm wichtig. „Ich hatte immer einen anderen Blick auf die Menschen. Einen speziellen“, sagt er. Das hätte ihn auch von den vielen anderen Fotografen unterschieden, die die geschichtlichen Ereignisse damals festgehalten haben. „Und keiner hat die Dinge so konsequent fotografiert wie ich“, sagt er.
Wie er als Dokumentarfotograf vorgeht, hat er in seinem Fotodesign-Studium in Essen gelernt. Hörseljau erinnert sich noch daran, dass seine Professorin immer davon gesprochen hat, dass sich die Studenten eigene Projekte suchen sollen. Die Begleitung der Grenzöffnung auf dem Brocken ist sein Langzeitprojekt. Seit mehr als30 Jahren dokumentiert er den Wandel und die Veränderung, die Entrümpelung der Landschaft, die Erschließung neuer Wohn- und Arbeitsflächen und die Umwandlung ehemaliger Sperrgebiete in einen intakten, großflächigen Naturraum.
Um den alten und neuen Blick miteinander zu verbinden, fertigt er Gegenüberstellungen von Orten an. So zeigt er Plätze vor und aus der gleichen Perspektive nach dem Mauerfall. Die Fotos lässt Hörseljau aber nicht im Keller verstauben, er will sie der Öffentlichkeit zeigen. Die Zeiten der deutschen Teilung sollen nicht in Vergessenheit geraten. Hansjörg Hörseljau hat zwei Bildbände über den Brocken veröffentlicht. Einige Fotos hat er auch in Ausstellungen präsentiert. Daraufhin haben sich sogar Menschen bei ihm gemeldet, die sich auf seinen Fotos wiedererkannt haben.
Bad Harzburg. Am 11. November 1989, einem Samstag, fiel der Eiserne Vorhang zwischen Eckertal und Stapelburg – und das auf eine Art und Weise, bei der man wirklich davon sprechen kann, dass „das Volk“ die Sache in die eigene Hand genommen hatte. Denn zwei ganz normale Männer – Peter Röhling und sein Schwager Norbert Heindorf – schraubten die Grenze vor den Augen der bewaffneten DDR-Grenztruppe auf.
Norbert Heindorf ist vor einigen Jahren gestorben, Peter Röhling indes noch heute tief in Stapelburg verwurzelt. Er ist einer der Mitorganisatoren der Feierlichkeiten an der ehemaligen Grenze, die in diesem Jahr besonders groß ausfallen (siehe Kasten). Dabei wird auch ein neues Grenz-Infodenkmal eingeweiht, für das Peter Röhling seine Geschichte noch einmal aufgeschrieben hat. Die GZ druckt exklusiv vorab den Text in Auszügen:
„Als ich im Jahr 1965 das Licht der Welt erblickte, stand die Mauer schon, ich wuchs im beschaulichen Stapelburg auf, das zum Teil in der Fünf-Kilometer-Sperrzone sowie auch in der 500-Meter-Zone lag. Das heißt, es ging ein Signalzaun mit Spurenstreifen durch den Ort, der die Bereiche Lerchenfeld und Siedlung abschirmte. Es gab nur einen ständig von Grenzsoldaten besetzten und kontrollierten Ein- und Ausgang. Mein Elternhaus lag im Fünf-Kilometer-Gebiet.
Um nach Stapelburg zu kommen, musste man als Einwohner einen blauen Stempel (Fünf-Kilometer-Gebiet) im Ausweis haben und für den 500-Meter-Schutzstreifen einen roten Stempel. Die Dokumente hatte man ständig bei sich zu tragen.
Im Jahr 1985 kam meine Tochter zur Welt, und meine Freundin und ich suchten eine Wohnung. Da Wohnraum in der DDR Mangelware war, gab es keine. Aber der damalige Stapelburger Bürgermeister Dieter Dammann erzählte mir von einem leerstehenden kleinen Haus im 500-Meter-Schutzstreifen. Einfach hinfahren und ansehen war nicht möglich, es musste erstmal eine Genehmigung her, mit der wir dann berechtigt waren, den Schutzstreifen zu betreten und das Haus anzusehen.
Meine Freundin verliebte sich sofort in die kleine heruntergekommene Hütte mit vier Räumen ohne Bad und WC und sie wurde gekauft. Mein Vater prophezeite mir damals: „Da kommst Du nie aus dem Sperrgebiet raus, mach das nicht!“
Dann kam der heiße Herbst 1989, und die Ereignisse überschlugen sich. Während die Berliner die Grenzübergänge stürmten und am späten Abend auf der Mauer tanzten, liefen in der Provinz in Stapelburg die Kontrollen wie gewohnt weiter, und man konnte das Unfassbare nur am Fernsehgerät verfolgen. Man holte sich erstmal den begehrten Visum-Stempel in den Ausweis, der zur Ausreise in die BRD berechtigte, man konnte ja nicht wissen, wann man es mal schnell braucht.
Es war Samstag, der 11. November 1989. Die offiziellen Übergangsstellen und Transitrouten waren überlastet. Auch einige Stapelburger machten sich auf den Weg nach Marienborn oder Berlin. Auf dem Bau bei Röhlings ging die Arbeit wie gewohnt weiter, Schwager Norbert mit Frau waren wie immer zum Helfen da. Wir hämmerten am Vorbau-Dach, als meine Frau Kathrin mit der Meldung von den Nachbarn kam, in Stapelburg werde die Grenze aufgemacht. Das habe ein Radiosender gemeldet (Anm. d. Redaktion: Es handelte sich um die Falschmeldung eines niedersächsischen Radiosenders).
Wir beschlossen, sofort die Arbeiten einzustellen, luden Gartenstühle, Kaffee und Kuchen in die zwei Trabants und ab ging es direkt zur noch heute stehenden Schmuckmauer am letzten Haus in der Siedlung. Dort angekommen haben wir mit unserer Picknickausstattung erstmal Platz genommen. Hier hatten sich schon einige Anwohner versammelt, und es entwickelte sich ein Zwiegespräch mit den Grenzern vor Ort nach dem Motto „wir haben ja ein gültiges Visum“. Die Mauer ist gefallen, somit könnten die Grenzer ja Feierabend machen. Aber da wollten sie sich nicht drauf einlassen. Noch nicht. Die Grenzer hatten ihre Kalaschnikows locker über die Schulter gehängt. Es war klar, wer hier das Sagen hatte. Das jahrelange Leben mit dem Grenzregime hatte seine Spuren hinterlassen. Die Ehrfurcht war schon gewaltig.
Am Kontrollpunkt zum 500-Meter-Gebiet stauten sich derweil Hunderte Menschen und forderten die Öffnung der Grenze. Der Zustrom und Druck wurde immer größer. Die diensthabenden Grenzsoldaten waren wirklich nicht zu beneiden, und ihnen ist es zu verdanken, dass die Situation nicht eskalierte.
Direkt an der Mauer traten jetzt ein paar Personen vom damaligen Kreis Wernigerode in Erscheinung, die uns erklärten, dass die Ecker- Brücke baufällig sei. Und außerdem hätte man kein Werkzeug, um die Grenze zu öffnen. Kein Werkzeug? Das war das Stichwort für Norbert Heindorf und mich. Wir waren mit dem Trabant da, und Trabant-Fahrer haben immer Werkzeug an Bord. Also Werkzeug geholt und mit ein paar anderen Anwesenden Maschendraht an der Schmuckmauer entfernt, Trapezblechplatte ausgesucht und los ging es.
Einer musste auf und über die Blechwand und die Muttern festhalten. Das übernahm Norbert, ich ließ mich kurz vor der letzten Schraube noch über die Blechwand heben. Ich wollte wenigstens einmal das Bauwerk überwinden!
Wir gingen zur Eckerbrücke, wo wir von einer begeisterten Menge empfangen wurden. Werner Simon vom Bundesgrenzschutz fragte uns gleich, ob wir in der Bundesrepublik bleiben wollen. „Nein“, habe ich geantwortet. „Ich wohne hier um die Ecke und will nur mal gucken, dann geht es wieder heim.“
Es war ein unglaubliches Gefühl, da man gerade im Herbst (ohne Blätter an den Bäumen) die Westseite immer vor Augen hatte und sie trotzdem für uns als unerreichbar galt. Wir sind dann zurück und haben die Frauen und Kinder nachgeholt.
Inzwischen war die Kontrollstelle am Eingang zum 500-Meter-Streifen geöffnet worden, und die Menschenmenge schlängelte sich durch die schmale Öffnung im Blechzaun. Grenzsoldaten hatten unsere Arbeit übernommen und schraubten nun weitere Platten ab, um die Öffnung zu vergrößern.
Über die Ecker wurde schnell eine Behelfsbrücke aus Bohlen gebastelt. Nach einem kurzen Besuch im Eckerkrug und Gesprächen mit Anwesenden (wo die unglaubliche Freude aller zu spüren war) ging es mit Frau und Kindern wieder nach Hause, denn um 19 Uhr sollte im Kulturhaus in Stapelburg eine Disco stattfinden.
Als „Burg Disco Stapelburg“ hatte ich mit Uli Leßmann ab 19 Uhr für Musik zu sorgen, ich dachte mir nur, dass wir wohl allein sein werden, weil alle anderen in Bad Harzburg feiern. Aber es sollte wieder mal anders kommen!
Es konnte zu dem Zeitpunkt niemand ahnen, wer alles den Weg nach Stapelburg finden sollte. Da es keine Infrastruktur für Kontrollen gab, war es eine grenzenlose Nacht ohne Zwangsumtausch und Grenzkontrollen, die von Tausenden aus Ost und West genutzt wurde.
Selbst der Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, ließ es sich nicht nehmen vorbeizuschauen. Mehrere Fernsehteams machten Aufnahmen, wie die feiernde Menge mit Deutschlandflagge durch den Saal tanzte. Ich sagte noch zu Uli, „wenn sie das senden im Fernsehen, sind wir nächste Woche nicht mehr hier“. Es wurde gesendet, aber wir blieben frei.
Der 11. November 1989 wird mir immer als ein ganz besonderer Tag in Erinnerung bleiben, der mich und meine Familie vom Ende der Welt in die Mitte Europas katapultierte.“
Nordharz. Der Startschuss der Feierlichkeiten zu 30 Jahren Grenzöffnung erfolgt schon am Samstag. Auch, wenn der 9. November historisch gesehen nicht das Datum ist, an dem im nördlichen Harzvorland der Eiserne Vorhang sein erstes Loch bekam. Trotzdem richtet die Einheitsgemeinde Stadt Osterwieck am Jahrestag, an dem in Berlin die Mauer fiel, in Rhoden die zentrale Feier aus, um an alle Grenzöffnungen im heutigen Gebiet der Fallstein-Stadt zu erinnern.
Frisch saniert präsentiert sich der alte DDR-Grenzturm im Kleinen Fallstein (links) – seine neue Farbe erinnert an die historische (rechts). Zu erkennen ist auch: Damals waren weite Teile des Höhenzugs abgeholzt – für ein besseres Sichtfeld. Foto: Archiv Röhl„Acht ehemalige Grenzgemeinden gehören zur Stadt“, erklärt Osterwiecks Bürgermeisterin Ingeborg Wagenführ. Zur Vorbereitung planten Vertreter dieser Gemeinden über Monate in einer Arbeitsgruppe. „Wunsch war es, an einem Tag zu feiern, an dem möglichst viele die Gelegenheit haben, teilzunehmen“, sagt sie. So fiel die Wahl auf den 9. November, in diesem Jahr ein Samstag, der Tag, der sich wegen des Falls der Berliner Mauer ins Gedächtnis eingebrannt hat. Rückblende: Nachdem am 11. November 1989 zwischen Stapelburg und Eckertal der Eiserne Vorhang fiel, war im Nordharz schon einen Tag später der Weg durch die Grenzanlagen zwischen Hessen und Mattierzoll frei. Es folgte am 18. November die Öffnung der Grenze zwischen Hoppenstedt und Hornburg.
1989 kam noch ein weiterer Grenzübergang hinzu: zwischen Lüttgenrode und Wennerode (20. Dezember). Es folgten auf heutigem Osterwiecker Gebiet: Rhoden-Hornburg und Wülperode-Wiedelah (beide am 10. Februar 1990), Göddeckenrode-Isingerode und Göddeckenrode-Hornburg (beide am 3. März 1990), Osterode am Fallstein-Hornburg (8. April 1990). Kein Datum ist an den braunen Schildern überliefert, ab wann zwischen Rimbeck und Hornburg kein Zaun mehr den Weg versperrte.
Die Grenzöffnungen im Nordharz gleichen Völkerwanderungen – hier schlüpfen Tausende durch das Loch im Zaun bei Wülperode. Foto: Archiv Röhl/Jörg MackeRhoden am Fuße des Kleinen Fallsteins, der Ort der Feierlichkeiten, ist ein Dorf, bei dem Reste der Grenzanlagen erhalten geblieben sind. Oben am Kammweg, wo Betonplatten noch den einstigen Kolonnenweg bilden, steht ein alter Beobachtungsturm. Wenige Schritte weiter gibt es Reste des Metallgitterzauns. Versteckt am Kammweg in Richtung Hoppenstedt liegt auch ein Bunker. Der Grenzturm ist eine Besonderheit: Nicht nur, weil er erhalten geblieben ist – er besteht im Gegensatz zu allen anderen auch nicht aus Betonfertigteilen, sondern ist gemauert. 1975 erfolgte der Bau des acht Meter hohen Beobachtungsturms, der ab 1975 als Befehlsstelle für Offiziere der DDR-Grenztruppen diente. Zum runden Geburtstag der Grenzöffnungen ließ ihn die Stadt Osterwieck sanieren. Die Witterung hatte ihm zugesetzt, großflächig platzten Putz und Farbe ab. „70 Prozent des Außenputzes mussten wir abklopfen und die Fassade entsprechend neu verputzen“, erzählt Fritz-Günter Braune, Leiter des Osterwiecker Bauhofes. Anschließend bekam das Denkmal einen neuen Anstrich. „Es ist ein zementgrau – kein Weiß, so wie vorher“, sagt Braune – eine Farbe, wie sie auf historischen Fotos zu erkennen ist. Frisch gestrichen zudem der Innenbereich. Unterdessen haben Arbeitskräfte auch den einstigen Kolonnenweg entlang des Beobachtungsturms von Bewuchs befreit.
Rechtzeitig zum runden Geburtstag der Grenzöffnung bekommen die drei Pulte, die am alten Grenzzaunrest stehen, endlich ihre Informationstafeln. Auch wird auf Initiative des Abbenröder Grenzerkreises die originalgetreue Replik einer DDR-Grenzsäule im Kleinen Fallstein errichtet. Sie soll keine nachempfundene Ostalgie sein, sondern als Denkmal verstanden werden und zum Nachdenken anregen, an die Jahre der Teilung und Trennung erinnern, wie es Andreas Weihe vom Grenzerkreis formulierte. „Diese Säulen sind wie Stolpersteine“, ergänzt Lothar Engler.
Hohegeiß. Das, was Marlit Schubert erlebt hat, wünscht wohl niemand seinem schlimmsten Feind. Sie hat gesehen, wie ihr Mann erschossen worden ist. Es war am frühen Nachmittag des 1. Augusts 1963. Gemeinsam mit ihm wollte sie aus Richtung Sorge in der damaligen DDR nach Hohegeiß flüchten. Doch das Vorhaben misslang, Helmut Kleinert wurde getötet, Marlit Kleinert (später Schubert) verhaftet.
Das Ereignis sorgte für ein Rauschen im westlichen Blätterwald, zumal mehr als 200 Menschen von Hohegeiß aus die Tat mitbeobachteten. Unter anderem standen eine schwedische Reisegruppe und eine Jugendgruppe aus dem ehemaligen Kreis Trebnitz in Schlesien auf dem Parkplatz und blickten gen DDR. „Die Urlauber mussten in Deckung gehen, weil einige Gewehrsalven ihr Ziel verfehlt hatten“, erinnert sich Zeitzeugin Sonja Mares, die damals in Hohegeiß lebte.
Anschließend lag die Leiche Kleinerts mehr als zwei Stunden in dem sogenannten zur DDR gehörenden Niemandsland zwischen Grenzzaun und dem Ortsgebiet von Hohegeiß. Die DDR-Grenzsoldaten, die von westlicher Seite lautstark als „Mörder” beschimpft worden sind, waren offenkundig verunsichert, wie Sonja Mares weiter berichtet. Erst so kurz nach 16 Uhr sei die Leiche des Flüchtlings per Sanitätsfahrzeug abtransportiert worden.
Die mittlerweile verstorbene Marlit Schubert hatte zu Lebzeiten gegenüber der GZ berichtet, wie sie die Flucht erlebte. Die damals 22-Jährige und ihr ein Jahr älterer Ehemann wollten an diesem 1. August 1963 endlich in den Westen gehen. Sie waren zu der Zeit bereits fast vier Jahre verheiratet, und sie war schwanger. Kennengelernt hatten sie sich im Muldenthaler Emaillierwerk. Später war das Paar nach Quedlinburg gezogen, wo Helmut Kleinert zunächst als Kraftfahrer und später als Lagerist arbeitete.
„Am 31. Juli sind mein Mann und ich mit dem Motorrad in Quedlinburg losgefahren“, erinnerte sich Marlit Schubert während des damaligen Gesprächs. Das erste Ziel lag kurz vor Benneckenstein, das damals im Sperrgebiet lag. Sie ließen das Motorrad zurück und wollten zu Fuß über die Grenze. „Doch wir haben uns verirrt.“ Erst gegen Mittag des nächsten Tags standen sie kurz vor der Demarkationslinie. Trotz der unmenschlichen Sperranlagen des SED-Regimes versuchten sie kurz vor 2 Uhr die Flucht. „Mein Mann war nervös und rannte los. Ich folgte ihm.“
Plötzlich seien sie von den Grenzposten zum Stehenbleiben aufgefordert worden. „Aber wir rannten weiter. Auf einmal wurden mir die Füße weggezogen“, berichtete Marlit Schubert seinerzeit. Ihrem Mann sei es gelungen, durch den Zaun hindurchzukriechen. Dann seien Schüsse gefallen. „Die Grenzer haben gezielt auf Helmut gefeuert. Er fiel hin, aber ich dachte, er ist nur verletzt worden.“
Marlit Schubert wurde mit einem Lastwagen abtransportiert. Immer wieder sei sie von Offizieren verhört worden, die wissen wollten, ob sie Hilfe hatten, wo sie hinwollten und wer Bescheid wusste, doch sie schwieg. „Ich fragte aber immer, wie es Helmut geht und ob ich ihn besuchen könne.“ Bei einem weiteren Verhör Tage später in Wernigerode hatte dann ein Offizier einen anderen gefragt, wie sie denn den Tod ihres Mannes aufgenommen habe. Der Schock dann saß tief.
Später hatte der Schwiegervater Marlit Schubert aus dem Gefängnis geholt und für sie gebürgt. Sie lebte dann erst einmal bei den Schwiegereltern. Im März 1964 wurde der Sohn geboren, im Oktober 1964 folgte die Gerichtsverhandlung wegen der versuchten Republikflucht. Sie sei zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden, die für drei Jahre auf Bewährung ausgesetzt wurden.
Einige Jahre später lernte sie einen anderen Mann kennen und heiratete wieder. Bis Mai 1990 lebte sie in Quedlinburg, dann siedelte sie nach Springe bei Hannover über. Marlit Schubert hat während ihres Besuchs in Hohegeiß im September 1990 Anzeige gegen die Grenzsoldaten erstattet, die ihren Mann erschossen haben. Am 6. September 1995 schließlich erhob die Staatsanwaltschaft Magdeburg wegen Totschlags an Helmut Kleinert Anklage gegen drei ehemalige Grenzsoldaten.
Schuldig gesprochen wurde nach GZ-Informationen aber niemand. Zwei der drei Soldaten waren zwischenzeitlich verstorben, und der dritte gab an, er habe nur Warnschüsse in die Luft abgegeben. Weil ihm die Tat nicht nachgewiesen werden konnte, hatte ihn das Landgericht Magdeburg im April 2000 schließlich vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Marlit Schubert hat das Ergebnis ihrer Anzeige noch erlebt. Sie starb nach Auskunft von Karsten Kohlmeyer von der Stadt Springe im Jahr 2012.
In Hohegeiß hatten die Jugendlichen der aus Schlesien stammenden Gruppe im August 1963 ein Holzkreuz, das mit Stacheldraht umschlungen war, an dem Parkplatz aufgestellt. Es sollte an die versuchte Flucht und den Tod Helmut Kleinerts erinnern. Vor dem Mahnmal hatten sie Blumen gepflanzt. Die Gemeinde Hohegeiß hatte dann 1971 das morsche Kreuz durch den Gedenkstein ersetzt, der heute noch an Ort und Stelle steht.
Den Fall der Mauer hat Gisela Mews vor dem Bildschirm miterlebt. Weit entfernt vom Ort des Geschehens, in einem Wohnzimmer im Saarland. Dabei war sie im Schatten dieser Mauer aufgewachsen, verbrachte Kindheit und Jugend in Abbenrode. „Der Grenzstreifen reichte fast bis an die Haustür“, erinnert sich die 66-Jährige.
Seit 1999 lebt sie wieder im Harz, seit drei Jahren in Bad Harzburg. Über die Umstände ihrer Ausreise im Jahr 1981 hat sie nie viel gesprochen. Erst spät war ihr bewusst geworden, dass sie damals im Rahmen der „Aktion Guillaume“ die DDR verlassen durfte.
Der Kanzler-Referent Günter Guillaume war 1974 als Spion enttarnt worden. Die DDR wollte ihren inhaftierten und inzwischen schwer erkrankten Spitzenmann zurückholen und mit ihm fünf weitere Agenten. Im Gegenzug hatte sich die DDR bereit erklärt, neun wegen Spionage verurteilte Häftlinge aus dem Zuchthaus Bautzen freizulassen sowie 30 politische Gefangene. Darüber hinaus sollten 3000 DDR-Bürger im Zuge der Familienzusammenführung und 4000 weitere Menschen ausreisen dürfen – ein in der Geschichte der beiden deutschen Staaten einmaliges Tauschgeschäft. Von dem profitierte damals auch die 27-jährige Gisela.
Mit jedem Ausreiseantrag verknüpfte sich in der DDR eine sehr persönliche Geschichte. Die von Gisela Mews begann Ende der 1950er Jahre an der damals noch „grünen Grenze“ im Harzvorland. Auf dem streng bewachten Streifen, der hinter dem Gartenzaun ihres Elternhauses verlief, wurden Zaun, Mauer und Selbstschussanlagen errichtet. Gisela Mews erinnert sich an ein Gefühl „ständiger Beobachtung“.
Ihren ersten Mann lernte die junge Frau in direkter Nachbarschaft kennen. Er war 1970 wegen versuchter Republikflucht zu anderthalb Jahren Knast in Bautzen verurteilt worden, sagt sie, weil sein Hund beim Gassi-Gehen den Sicherheitsdraht ausgelöst hatte. Die Beziehung zerbrach 1977, Gisela Mews und der gemeinsame Sohn lebten inzwischen in Langeln. Sie arbeitete in einem Wernigeröder Hotel und lernte dort ihren zweiten Mann kennen – einen Geschäftsmann aus dem Saarland. Er kam immer wieder nach Wernigerode, irgendwann nur ihretwegen. Nach dem Tod der Mutter 1979 traf sie deshalb eine persönliche Entscheidung: Ausreiseantrag.
Durch die Liaison mit einem Saarländer war sie ohnehin längst ins Blickfeld geraten. Das ahnte die junge Mutter sehr wohl. Was sie nicht ahnte: Das Kind machte sie erpressbar. Als sie über eine private Vermittlung beim bekannten DDR-Anwalt und -Unterhändler Dr. Wolfgang Vogel in Berlin ihr Anliegen vortrug, redete der nicht lange drum herum: Sie müsse das Erziehungsrecht für ihren sechsjährigen Sohn dessen leiblichen Vater übertragen. Aufgewühlt und bestürzt trat Gisela Mews die Heimreise nach Langeln an – mit der wachsenden Gewissheit, dass es wohl nun keinen Weg zurück mehr für sie gab.
Im September 1981 erreichte sie die Information, sie solle „alles fertig machen“, in acht bis zwölf Wochen könne sie mit ihrer Ausreise rechnen. Der Sohn lebte inzwischen beim Vater, also verteilte die 27-Jährige ihr Hab und Gut an Nachbarn und Freunde, packte drei Taschen und wartete. Am Morgen des 2. Dezember schließlich der Anruf. Bis Mitternacht musste sie die Grenze passiert haben. So wurde es am Ende doch ein hektischer Abschied, aber am späten Abend passierte sie im Interzonenzug schließlich den Grenzübergang.
Von der „Aktion Guillaume“ wusste Gisela Mews damals nichts. Und selbst wenn sie es geahnt hätte, wäre es wohl nicht mal im Ansatz denkbar gewesen, dass ihre Lebensgeschichte bald noch einmal Teil der deutsch-deutschen Diplomatie werden würde. Bei der Nachholung ihres Sohnes – dem ging es nämlich nicht gut ohne die Mutter. In ihrer Verzweiflung wandte sich Gisela Mews an den Bürgermeister ihrer neuen saarländischen Heimatstadt Neuenkirchen. Der wiederum war gut bekannt mit Oskar Lafontaine, der wiederum vom Wunsch Erich Honeckers wusste, das Saarland besuchen zu wollen. Erneut wurde DDR-Unterhändler Vogel eingeschaltet und 1984 traf der damals Elfjährige in Neuenkirchen ein. „Da war eigentlich alles gut“, sagt Gisela Mews rückblickend. Fünf Jahre später fiel die Mauer.
Seine Wurzeln hat er in Langelsheim und Goslar, seinem Job geht er schon seit mehr als zwei Jahrzehnten in Halle an der Saale nach. Der 53-jährige Matthias Lux erlebt dort als Chef der Stadtwerke an verantwortlicher Stelle Entwicklungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft hautnah mit. Gleichzeitig bleibt er seiner alten Heimat eng verbunden. Kurz bevor sich die Grenzöffnung zum 30. Mal jährt, steht er GZ-Redakteur Frank Heine Rede und Antwort zu Ost-West-Fragen.
Den Abend des 9. November beim Doppelkopfspiel in Göttingen. Nach kurzem Schlaf sind wir gleich früh am 10. November nach Berlin gefahren. Wir waren zunächst recht orientierungslos am „Kudamm“ unterwegs und dachten: „Im Osten muss jetzt richtig was los sein.“
Schnell sind wir „rüber“ und dort in den – inzwischen verschwundenen – „Palast der Republik“ hinein. Im Untergeschoss war damals eine riesige Kegelbahn. Da sind wir gelandet – und waren fast die einzigen Gäste, während sich Tausende Mauerspechte am Brandenburger Tor versammelt hatten.
Die Einreise-Beschränkungen für Westbürger entfielen ab Weihnachten 1989. Wir wollten noch einen letzten Stempel in den Reisepass haben und fuhren nach Eckertal. Dort hatte eine regionale Baufirma einen provisorischen Übergang über die Ecker geschaffen, indem sie Rohre in das Flussbett gelegt und so eine Überfahrungsmöglichkeit geschaffen hatte.
Auf der anderen Seite liegt Stapelburg – und dort erlebten wir ein tolles Fest. Die Stapelburger hatten Tische und Stühle an den Straßenrand geräumt und schenkten freigiebig Schnaps und Bier aus. Auf einer Straßenlänge von, ich glaube, 100 Metern fand eine wunderschöne Einigungsfeier statt.
Am 6. Januar 1990 war schließlich eine Art „Dankeschönfeier“ der Stadt Quedlinburg – getragen von sehr vielen Quedlinburgerinnen und Quedlinburgern. Das Fest war ein Dankeschön für die freundliche Aufnahme zuvor in den Tagen der Grenzöffnung im Kreis Goslar. Und alle kamen – natürlich nicht alle, aber wieder war es ein schönes und fröhliches Fest in – gefühlt – ganz Quedlinburg. In der heute noch existierenden Tourist-Information warteten die Quedlinburger auf Gäste und boten ihnen Unterkunft. So auch uns. Wir schliefen auf einem Wohnzimmerfußboden in einem Plattenbau nach einer fröhlichen Feier mit unseren Gastgebern.
Nein, für mich nicht, jedenfalls keine ernsthaften. Anfang der 90er war ich zweimal zu einem Praktikum bei der Treuhandanstalt.
Spätestens da habe ich aberden ganzen Umfang der Aufgabenstellung gesehen, die der Einigungsprozess eigentlich bedeutete. Dennoch war und bin ich bis heute begeistert von dieser Einheit und den Monaten und Jahren Anfang der 90er.
Gibt es eine DDR-Identität? Über diese Frage habe ich sehr oft mit verschiedenen Menschen diskutiert. Fast immer lautete die klare Antwort: Nein, die gibt es nicht. Es gab in der DDR eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Erleben – das Durchlaufen der FDJ, die Mai-Feiern und so weiter.
Aber sonst haben sich die Sachsen eher als Sachsen, die Thüringer eher als Thüringer und die Brandenburger eher als Brandenburger mit ihren regionalen Unterschieden und Eigenschaften gesehen. Das ist genauso wie im Westen der Unterschied zwischen einem Pfälzer und einem Holsteiner, einem Bayer und einem Niedersachsen.
Ja, das dauerte lange. Die Frage: „Wo kommst Du her?“, habe ich oft gehört. Und manchmal hat es mich geärgert. Andererseits habe ich auch ehrliche Überraschung geerntet, wenn ich „aus Niedersachsen“ gesagt habe. Offenbar hatte man nicht den Wessi in mir gesehen.
Wessi und Ossi spielen aus meiner Sicht im Osten weit überwiegend keine bewertende Rolle. „Wessi“ ist dagegen oft die Erklärung für Verhaltensweisen, die Menschen im Osten nicht hatten. „Ihr im Westen seid 13 Jahre zur Schule gegangen, wir zwölf Jahre. Im letzten Jahr habt ihr Schauspiel- und Theaterunterricht bekommen.“ Das habe ich oft in vertrauten Runden mit einem Augenzwinkern gehört.
Ganz witzig eigentlich: Die noch im Westen geborene Tochter studiert inzwischen in Dresden. Die jüngere im Osten geborene Tochter hat jetzt in Erlangen ein Studium begonnen. Aber ich habe beide gefragt – und auch da ist die Ansage klar: Das ist in ihrem Bekanntenkreis überhaupt kein Thema und wird nicht diskutiert.
Manchmal. Zumeist positiv; da ist viel Bereitschaft für das Unternehmen und die Arbeit zu kämpfen, da ist Understatement, aber auch Stolz über das Erreichte in 30 Jahren.
Heute sind wir manchmal besser als Unternehmen im Westen. Und da ist noch immer ein Rest des unglaublichen Improvisationstalents aus DDR-Zeiten und der frühen Nachwendezeit.
Die Begriffe beschreiben die sozial unterschiedliche Herkunft von Menschen vor 1989, die in unterschiedlichen Systemen geboren und erzogen wurden. Und daher bestanden natürlich auch Unterschiede. Wessi und Ossi haben jedoch keinen vergleichenden Wert. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Die Ereignisse von 1989 liegen nun 30 Jahre zurück. Menschen, die 1990 geboren wurden und nie im Osten gelebt haben, sind heute 30 und stehen in der Phase der größten Leistungsfähigkeit ihres Lebens. Für diese Menschen ist das alles längst Geschichte.
Ja, die AfD ist stärker als im Westen des Landes. Mit der Wende haben die Menschen im Osten eine Erosion ihrer Gesellschaft, ihrer Arbeitsplätze und ihrer wirtschaftlichen Existenz und aller staatlichen Institutionen erlebt. Das haben wir aus dem Westen nicht mitgemacht und können es uns auch nicht wirklich vorstellen. Fast nichts hatte damals Bestand. Ein derartig existenzielles Erlebnis gab es in Deutschland zuletzt 1945. Der Osten wollte in die Freiheit und in eine neue Gesellschaft und hat es aus eigener Kraft 1989 geschafft. Das ist ein großartiges Ereignis in der deutschen Geschichte und ein großartiger Erfolg der Menschen im Osten.
Ich glaube, dass nach dem Erkämpfen der Einheit, dem Überstehen der wirtschaftlich teils schlimmen Zeit danach mit Arbeitslosigkeit und manchmal Perspektivlosigkeit die Menschen im Osten das Erreichte bewahren wollen. Herausforderungen für das heutige Deutschland in den letzten Jahren wie Euro-Krise, Migration, Energiewende, Krise der EU und so weiter begegnen manche Menschen im Osten mit dem Wunsch, das Erreichte zu bewahren.
Soweit sie das nicht durch die Parteien der sogenannten Mitte repräsentiert sehen, geben sie den Parteien rechts und links der Mitte ihre Stimme. Der Westen darf den Osten jedenfalls nicht für rechtsradikal halten, das wäre ein schlimmer Fehler. Denn er ist es nicht.
Der Tag war zunächst voller Erschrecken und Trauer. Während der Stunden bis zur Verhaftung waren auch Menschen der Stadtwerke Teil der Organisation, die an diesem Tag gefordert war – und die gut funktioniert hat. Halle hat getrauert und später die Stadtgesellschaft weit über meinen Erwartungen mit Zusammenhalt, mit Solidarität, mit Hilfe und einem klaren Bekenntnis zu den Werten dieses Landes reagiert.
Vor der Synagoge, vor dem Döner und auf dem Markt stehen bis heute viele brennenden Kerzen, die großen Sportvereine der Stadt haben mit ihrem Publikum bei Spielen gezeigt, dass sie diese Gesellschaft schützen wollen. Wir hatten eine Konzertveranstaltung mit 20.000 Besuchern unter dem Motto „#HalleZusammen“ und vieles andere mehr.
Sich erinnern an phantastische Tage damals in Deutschland und sich darüber freuen, in einem lebenswerten Land zu leben.
Hohegeiß/Sorge. „Hier saßen die Halterungen für die Selbstschussapparate“, sagt Manfred Gille und deutet auf die Löcher im hohen Metallgitterzaun. Das dreieinhalb Meter hohe Sperrwerk steht mitten im Oberharz, im Wald zwischen Hohegeiß und Sorge auf sachsen-anhaltischer Seite.
Dort sind der Metallgitterzaun und andere Teile der Grenzbefestigung erhalten geblieben. Sie sollten ursprünglich Menschen von der Flucht aus der DDR in den Westen abhalten. Heute sind sie Teile eines Freilicht-Museums.
„Man kann sehen, dass die Schussapparate in drei Reihen angebracht waren“, erläutert der frühere Zollbeamte: in Knie-, Brust- und Überkopfhöhe. „Sobald der Zaun berührt wurde, lösten die Apparate aus.“ Gille, der im nahen Hohegeiß wohnt, kennt die Grenze aus langer beruflicher Erfahrung. Bis 1989 ist der pensionierte Zollbeamte regelmäßig Streife auf der westlichen Seite gelaufen.
Besonders belastend sei es gewesen, wenn im Grenzgebiet Minen detonierten, erinnert sich Gille. „Wenn man im Nachtdienst unterwegs war, herrschte meistens absolute Stille. Wenn dann plötzlich eine Mine detonierte, war das wie ein Schock.“ Meistens sei nur Wild auf die im Erdreich verborgenen Sprengsätze getreten. Die Grenze sei aber auch im Oberharz für Menschen ein Todesstreifen gewesen. An dem 13 Kilometer langen Abschnitt Sorge/Elend seien sieben Menschen durch Minen und Schusswaffen ums Leben gekommen. „Im gesamten Harz waren es 20.“
An die letzten Schüsse in seinem Grenzabschnitt kann der 75-Jährige sich noch gut erinnern. „Es war im Juli 1989.“ Durch ein Fernglas habe er damals beobachtet, wie DDR-Soldaten Warnschüsse abfeuerten, um die geplante Flucht von drei jungen Männern zu stoppen. Das Trio wurde festgenommen und abtransportiert. Was aus den Fluchtwilligen wurde, weiß Gille nicht.
Der ehemalige Zollbeamte ist in Fragen zur Grenze wie ein wandelndes Lexikon. Ob zu Signalzaun, Minenfeld, Stacheldraht, Hunde-Laufanlage oder Erdbunker: Gille lässt keine Frage unbeantwortet, die den Besuchern einfällt. „Es motiviert mich, als Zeitzeuge zu berichten“, sagt Gille. „Ich versuche dabei aber auch, die geschichtlichen Hintergründe zu erläutern.“ Vor allem jüngere Menschen, so habe er festgestellt, wüssten vielfach nur wenig davon, „wie es hier mal war.“
Wie vielen Menschen er in den vergangenen 25 Jahren den ehemaligen Todesstreifen gezeigt habe, könne er nur schätzen, sagt Gille. „Es waren viele Tausend. Und es werden von Jahr zu Jahr mehr.“
„Das liegt auch daran, dass hier alles noch im Original zu sehen ist“, sagt Inge Winkel. „Das fasziniert die Leute“, hat die Vorsitzende des Vereins „Grenzmuseum Sorge“ festgestellt.
Der Verein, der mit Gille eng zusammenarbeitet, betreibt in Sorge ein kleines Museum und kümmert sich um die Anlagen an der früheren innerdeutschen Grenze. Dazu gehört auch ein gut erhaltener Abschnitt des Kolonnenweges, den die DDR-Grenztruppen mit ihren Fahrzeugen nutzten. Bei einem Spaziergang über die Betonplatten mit den charakteristischen Löchern zeigt Gille auch, wie die Natur sich beidseits der Grenze in den vergangenen Jahren erholt hat. „Und dass, obwohl hier früher ständig Unkrautvernichter eingesetzt wurde.“
Auf Wunsch führt der ehemalige Zollbeamte die Besucher auch zu einer früheren Kaserne der DDR-Grenztruppen, die etwas versteckt und von einem hohen Zaun umgeben mitten im Wald liegt. „130 Mann waren hier untergebracht“, berichtet der 75-Jährige. Heute sind bei einem Blick durch den Zaun nur noch einige vor sich hin rostende Armeefahrzeuge zu sehen.
Zu den erhaltenen Grenzanlagen im Oberharz gehört auch ein Wachturm der DDR-Grenztruppen. Derzeit ist das Bauwerk allerdings komplett verhüllt. „Der Turm wird für mehr als 40.000 Euro restauriert“, sagt Inge Winkel. Doch bald schon kann Manfred Gille den Besuchern auch diesen Teil der Grenzbefestigung wieder zeigen und alle Fragen dazu beantworten. dpa