Wernigerode

Heiko und die Handschrift mit Charakter

Was die Füllfederhalter angeht, gab es zwei deutsche Hauptstädte: Hannover, wo Pelikan und GeHa residierten, und Wernigerode. Die bunte Stadt im Harz sorgte in der DDR für den blauen Tintenfluss in die Schulhefte. Die Wende ließ den Volkseigenen Betrieb (VEB) Schreibgeräte untergehen, erstklassige Schreibutensilien werden zu Füßen des Schlosses aber weiterhin produziert. Die Schneider Schreibgeräte GmbH sorgte 1992 dafür, dass im Tintenimperium alles im Fluss blieb.

Heiko stand stets im Schatten der bunten West-Werbewelt. Technisch konnten die Füllfederhalter mithalten, auch wenn das Wernigeröder Werk immer wieder mit Mangel bei den Rohstoffen zu kämpfen hatte. Produktmanager Michael Klehm gehört ebenso wie Schneider-Betriebsleiter Peter Witteweg noch zu den „Heiko-Männern“.

In Heises Kommanditgesellschaft (HeiKo) entstanden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Füller. Fast ein halbes Jahrhundert lang gehörte ein Heiko dann zum festen Inventar der Federmappen in vielen Ländern des Ostblocks und hielten gerade im Design auch West-Vergleichen Stand.

Michael Klehm mit Heiko-Füllern und Schneider-Modellen.Foto: Beckmann

Schreibutensilien und vor allem Patronen aus dem Ostharz avancierten zu Exportartikeln, brachten harte Währung in den chronisch klammen Arbeiter- und Bauernstaat. Mehr als 300 Mitarbeiter waren im Drei-Schicht-Betrieb aktiv. Damals wie heute wird die Produktion zu weiten Teilen von der Patrone bis zum fertigen Füller komplett in Wernigerode realisiert.

Wie für so viele Betriebe wurde die Wende dann aber trotz aller Qualität zum Wendepunkt für die Heiko-Füller. Die Westwaren-Welle spülte das Füllfederhalter-Unternehmen weg. Schon wenige Monate nach dem Mauerfall musste das Traditionsunternehmen Insolvenz anmelden.

Dass Heiko heute aus dem Schneider ist, war einem Schneider zu verdanken. Roland Schneider. Der Unternehmer, Chef der Schneider Schreibgeräte GmbH im Schwarzwald, erkannte das Potenzial des Heiko-Werkes, das perfekt eine Lücke im Firmensortiment füllte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte „die gute Schneider-Mine“ vor allem mit Kugelschreibern gepunktet. Das Unternehmen, das ausschließlich in Deutschland produziert und höchste Umweltstandards erfüllt, hatte es in diesem Segment zum Marktführer gebracht.

Seit der Übernahme 1992 wurden die Betriebsstätten mehrfach erweitert und modernisiert, weit mehr als 20 Millionen Euro investierte Schneider in seine Harzer Dependance. Dabei setzen die Wernigeröder Experten in Zusammenarbeit mit Schulen, Handchirurgen oder auch einem Chiropraktiker auf einem speziellen Sektor an. Ihr Augenmerk gilt in erster Linie den ergonomischen Eigenschaften der Füller.

Dass die Ideen der Entwicklungsabteilung und die Arbeit der Schneider-Belegschaft in Wernigerode auf dem Markt ankommen, belegen eindrucksvolle Zahlen. Zwischen zwei und drei Millionen Füllfederhalter werden produziert, hinzu kommen 15 Millionen Tintenschreiber und zwischen 30 und 50 Millionen Tintenpatronen. Komplettiert wird die Palette mit verschiedenen Markern, die ebenfalls in Millionen-Stückzahlen das Werk verlassen. Verkauft werden die Produkte beileibe nicht allein in Deutschland, aus dem Harz gehen die Schreibgeräte in mehr als 120 Länder in aller Welt.

Wie vor der Wende wird die Produktion zu weiten Teilen von der Patrone bis zum fertigen Füller komplett in Wernigerode realisiert. Foto: Beckmann

Wer unterdessen nach Spuren forscht, die Heiko hinterlassen hat, wird heute auf Sammlerbörsen fündig. Dort wird ein original Heiko-Füller aus dem Jahr 1964 dann auch schon mal als „antiker Tintenfüller“ angepriesen. Die Erinnerungen an die versunkene DDR-Warenwelt verblassen ähnlich schnell wie jene an Mauer und Grenze. Zumindest einem einstigen Heiko-Werbeslogan aber wird in Wernigerode unter der Schneider-Flagge weiter Leben eingehaucht: „Heiko – gibt der Handschrift Charakter“.

30 Bücher und ein Wolfenbütteler Kanzler

Beginn der Hochschule in Wernigerode

Als eine der jüngsten Hochschulen Sachsen-Anhalts vereinte die Hochschule (HS) Harz direkt nach der Wende Studenten aus alten und neuen Bundesländern. 1991 gegründet, gab es auf dem Campus in Wernigerode für Dozenten und Studenten einige Besonderheiten, welche die neue Hochschule mitbrachte.

Im Wintersemester 1991/92 wurde die HS Harz gegründet, insgesamt 75 Studenten waren damals eingeschrieben. Dazu kamen noch die letzten Studierenden der Agraringenieurschule (AIS), einer Bildungseinrichtung der ehemaligen DDR. Der Campus war zu der Zeit von dem Bild der Wende geprägt. So war die jetzige Rektoratsvilla ein Studentenwohnheim, das zuvor noch als Ferienheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) genutzt wurde.

Prof. Martin Wiese, mittlerweile Dekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften, war schon vor der Neugründung der HS Harz in Wernigerode tätig. 1989 unterrichtete er Informatik und Mathematik an der damaligen AIS. Mit anderen Dozenten reiste er dann nach Wolfenbüttel, um zu erfahren, wie man eine Fachhochschule (FH) auf die Beine stellt. Denn: „Niemand wusste so richtig, was eine FH überhaupt ist.“

Deshalb gab es regen Austausch mit der Hochschule in Wolfenbüttel: Erfahrene Mitarbeiter wie Rektor und Kanzler kamen von dort, war doch in Wernigerode die einzige „klassische Neugründung“ einer Fachhochschule in Sachsen-Anhalt. Herausfordernd sei dabei vor allem gewesen, dass viel auf Initiative der Dozenten passierte, berichtet Wiese. Das neue Bundesland stand selbst gerade mitten am Anfang, es gab weder richtige Verwaltungsstrukturen noch Ansprechpartner, die mit dieser neuen Einrichtung etwas anfangen konnten.

Die heutige Rektoratsvilla der Hochschule Harz war früher ein FDGB-Ferienheim. Foto: Privat

Carola Schmidt begann im Oktober 1992 mit ihrem Studium in Wernigerode. Die rund 160 Studenten waren damals noch im ehemaligen FDGB-Ferienheim untergebracht, zusammen mit den letzten „Bauern“, wie die AIS-Studenten von den Neuankömmlingen scherzhaft genannt wurden. Erinnern kann sie sich vor allem an die ständigen Umbauten, Erweiterungen und Änderungen. So bestand anfangs die Bibliothek aus einem Schrank mit knapp 30 Büchern. Schmidt half als Hilfswissenschaftlerin das Arsenal zu vergrößern, schon 1996 wuchs die Zahl der Bücher auf rund 30 000.

Viel wahrgenommen von dem politischen Umbruch habe sie aber nicht wirklich, erzählt Schmidt. Als 18-jährige Studentin sah man zwar die neuen Möglichkeiten, man habe aber auch ganz andere Sorgen gehabt. Für sie war die HS Harz eh eine „gesamtdeutsche Hochschule“: Es spielte für die Studenten keine wirkliche Rolle, ob man aus einem alten oder neuen Bundesland kam.

Für Carola Schmidt ist das heute auch noch kein Thema. Sie ist Geschäftsführerin des Harzer Tourismusverband und hat daher täglich mit dem Bundesländerdreieck Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt zu tun. Und auch nach Wernigerode gibt es noch Kontakt, hält sie doch jährlich Vorträge an der HS Harz.

Aufbruch: Wir machen eine neue Zeitung

Zum größten Firmen- und Immobilienverwerter aller Zeiten wurde die im Frühjahr 1990 von der DDR gegründete Treuhandanstalt. Sie sollte Tausende Volkseigene Betriebe mit mehr als vier Millionen Beschäftigten privatisieren oder „abwickeln“. Dazu gehörten 14 flächendeckende Bezirkszeitungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Ihr rascher Verkauf an große westdeutsche Verlage hatte zur Folge, dass die Zeitungslandschaft im Osten Deutschlands zementiert wurde und keinen Platz für neues, zartes Grün ließ.

Diese bittere Erfahrung musste auch der Goslarer Zeitungsverlag Karl Krause machen. Seine Geschichte des Aufbruchs und journalistischen Engagements auf der Ostseite des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“ ist symptomatisch für die ersten Jahre nach dem Mauerfall.

Sie begann mit einem ungeheuren Besucherstrom, der sich seit dem 11. November 1989 vor allem über Stapelburg/Eckertal in den Westharz ergoss: Der Wissensdurst der DDR-Bürger (ihre Landkarten waren westlich der Staatsgrenze weiß!) war dermaßen groß, dass sich die Goslarsche Zeitung (GZ) entschloss, in grenznahen Orten wie Bad Harzburg, Braunlage und Goslar Zehntausende Sonderdrucke mit allen wichtigen Informationen zu verteilen.

Schluss nach fast fünf Jahren: Die letzte Ausgabe der Wernigeröder Zeitung vom 30. Dezember 1995. Foto: Böhl

Gleichzeitig trafen GZ-Redakteure erste Vorbereitungen für Reporter-Einsätze im östlichen Harz. Dazu mussten sie sich beim Außenministerium der DDR als „Auslandskorrespondenten“ akkreditieren lassen. Wer von ihnen bis dahin noch nie einen privaten Wernigerode-Besuch über das dortige, für den „Kleinen Grenzverkehr“ zuständige Volkspolizei-Kreisamt zustande gebracht hatte (auch weil die Anreise nur über große Umwege möglich war), kam sich anfangs tatsächlich vor wie im Ausland.

Im Ergebnis aber fanden sich immer mehr spannende Nachrichten aus Wernigerode und Umgebung in der GZ. Der zweite Schritt war die Gründung der Wernigeröder Zeitung (WZ). Ihre erste Ausgabe kam am 1. März 1990 heraus. Sie verkaufte sich von Anfang an gut und wurde zur Konkurrentin für die Harz-Ausgabe der „Volksstimme“. Die Magdeburger Bezirkszeitung selbst wurde alsbald dem Zeitschriftenverlag Heinrich Bauer (Hamburg) zugeschlagen.

Der WZ-Erfolg der Anfangszeit basierte auf einer konstruktiven und fruchtbaren Zusammenarbeit von Ost-Redakteuren, die das Wissen über Land und Leute (samt deren Befindlichkeiten) einbrachten, und West-Redakteuren, die über das Know-how des modernen Zeitungsmachens verfügten.

Auf kaufmännischer Ebene gelang es der WZ, den Anzeigenmarkt im damaligen Landkreis Wernigerode aufzurollen. So standen alle Zeichen auf Wachstum, was den Verlag dazu bewog, kräftig – auch personell – in den Ausbau seiner Aktivitäten in Sachsen-Anhalt zu investieren. Auch die Leser der GZ profitierten davon: mit einer täglichen Top-Nachrichtenseite aus dem Raum Wernigerode. Umgekehrt erfuhren WZ-Leser alles Wesentliche aus ihrem Nachbarlandkreis Goslar.

Dieser Geschichte war jedoch kein Happy End beschieden: Trotz einer Auflage von rund 7000 Exemplaren musste der Verlag Krause Ende 1995 die WZ einstellen. Hauptgrund war ein ruinöser Wettbewerb, den der Bauer-Verlag überall führte, wo kleinere West-Verlage versuchten, im Verbreitungsgebiet der ehemaligen SED-Zeitung Fuß zu fassen: Dort warf er seine „Volksstimme“ zum halben Preis auf den Markt.

Wir haben gepokert und verloren“, resümierte der damalige GZ-Verleger Gert Krause in einer deprimierenden Betriebsversammlung. Das „Aus“ für die Wernigeröder Zeitung bedeutete nicht nur das Ende der täglich länderübergreifenden Berichterstattung: Für die Redakteure der „Harzer Volksstimme“ war es ein Pyrrhussieg. Nachdem das Monopol hergestellt war, dezimierte ihr Verlag die Redaktion.

Das Rathaus in Wernigerode steht als Symbol für den politischen Wandel auch in den Städten der ehemaligen DDR – und für die denkmalpflegerische Sorgfalt, die seit der Wende in der „Bunten Stadt am Harz“ regiert. Foto: privat

Den ehemaligen WZ-Redakteuren – nicht wenige arbeiten bis heute bei der GZ – ist die Erinnerung geblieben: an hautnahe Erlebnisse in einer Zeit des atemberaubenden Wandels von der Endphase der DDR bis zum Aufbau völlig neuer Strukturen, die heute völlig normal sind. Der Weg dahin war entscheidend – und einmalig.