Wenn der heute 85-jährige Johannes Bienert sich die vielen Fotos aus dem Winter 1989/90 anschaut und seine Frau Helga dazu aus ihren Erlebnisprotokollen jener Tage vorliest, dann weht der Hauch der Geschichte durch die gute Stube in Wiedelah. Der sonst eher zurückhaltende Bienert kämpfte damals als Ortsbürgermeister von Wiedelah wie ein Löwe für einen direkten Grenzübergang zur östlichen Nachbargemeinde Wülperode. Helga Bienert führte allabendlich akribisch Buch über die historischen Ereignisse jener Tage.
„Eine Grenzöffnung zwischen den beiden Orten war damals nicht gewollt“, sagt Bienert. Bereits Ende Dezember 89 war der Grenzpunkt Wennerode-Lüttgenrode aufgemacht worden. „Die Straße dampfte noch, als die ersten Autos rüberfuhren“, erinnert sich Bienert. Stapelburg war schon seit dem 11. November offen. Der Grenzverkehr sollte über diese Übergänge abgewickelt werden. Doch Bienert ließ nicht locker: „Die Menschen in Wiedelah und Wülperode wollten auf direktem Wege zu ihren Nachbarn. Wülperode hatte sich in der Geschichte immer Richtung Vienenburg orientiert.“
Auf Initiative von Bienert wurde ein Förderverein zur Koordinierung der nachbarschaftlichen Beziehungen gegründet. Silvester war es dann so weit. In der Nacht trafen sich Jugendliche aus Ost und West an der Grenze und wollten zusammen das neue Jahr begrüßen. „Bei uns klopfte es dann in der Silvesternacht um 1.30 Uhr an der Tür. In der Eckerklause feierten 18 Wülperoder zusammen mit den Wiedelahern“, erinnert sich Bienert. Zuvor hatten die Jugendlichen mit Zangen kurzerhand den Zaun aufgeschnitten. Das Schlupfloch nutzten sie dann gegen 4.30 Uhr auch wieder für den Rückzug. „Doch am nächsten Tag wurde die Grenze wieder zugemacht“, so Bienert.
Es folgten zahlreiche Besuche Bienerts in Osterwieck und Wülperode. In der Folge sammelten Wülperoder Bürger Unterschriften zur Schaffung eines Grenzübergangs nach Wiedelah. Am 19. Januar war Bienert dann zur Ratsitzung in Wülperode eingeladen, um die Öffnungszeiten eines Grenzübergangs zu klären. Doch es ging ihm nicht schnell genug.
Zu einem entscheidenden Treffen kam es dann am 31. Januar mit dem Grenzabschnittsbevollmächtigten Major Müller in Osterwieck. „Wir sprachen drei Stunden lang. Am Anfang zeigte er sich stur, es wurde laut. Als ich dann gehen wollte, gab er mir die Hand und stimmte der Grenzöffnung zu.“ An der Demontage der Zaunfelder nahm dann sogar ein Hauptmann der DDR-Grenztruppen teil. Bundesgrenzschutz und Zoll wurden benachrichtigt, die Straße über die Grenze wurde geteert und ein Bauwagen als Kontrollhäuschen aus Braunschweig besorgt. Am 10. Februar wurde dann schließlich gefeiert.
Es war der Tag, der sein Leben veränderte: Als Hans-Georg Kruse am Dienstag, 13. November 1973, zur Arbeit ging, ahnte er nicht, dass in wenigen Stunden alles anders sein würde.
Der 22-Jährige aus Harsleben hat seit Wochen einen ungewöhnlichen Job: Von Wülperode aus rollt er morgens mit einer Planierraupe durch ein Tor im Grenzzaun, über eine Trasse im Minenfeld und durch den zweiten Zaun. Dahinter biegt er scharf nach rechts ab Richtung Oker. Damit bei Hochwasser nicht Tretminen unterspült und aus dem Todesstreifen davongeschwemmt werden können, ist das Ufer befestigt worden. Weil der Aushub den Grenzern aber die Sicht nimmt, hat Kruse den Auftrag, die zu Wällen aufgetürmte Erde mit der Raupe zu verteilen – stets bewacht von zwei NVA-Soldaten.
Es ist Vormittag. Ein leichter Wind weht, aber es regnet nicht. Plötzlich kommt der Befehl, die Arbeit einzustellen und sofort zurückzukehren. Kruse und die beiden Wachposten nehmen mit der Raupe Kurs auf den Durchlass im Zaun. Wieder verläuft die Strecke entlang der Grenze, nur wenige Meter vom Westen entfernt.
Auf der anderen Seite fährt Obermeister Peter Puhle mit drei Kameraden Streife. Der Bundesgrenzschutz ist auf einem Feldweg in Richtung Oker unterwegs. Noch wissen die beiden Trupps, die sich aufeinander zu bewegen, nichts voneinander. Als die Raupe auf Parallelkurs in Sicht kommt, lässt Puhle das Fahrzeug stoppen und steigt aus. Es ist 10.30 Uhr.
Kaum sieht Kruse die Grenzschützer vor sich, schlägt sein Adrenalinspiegel Purzelbäume. Es ist die Chance seines Lebens. Er zwingt sich zur Ruhe – die beiden Soldaten, deren Vertrauen er sich erarbeitet hat, sollen ihm jetzt bloß nicht seine Unruhe anmerken.
Als sich die Raupe auf Höhe der Bundesgrenzschützer befindet, lässt Kruse einen Schlüsselbund auf den Motor fallen und hält das Gefährt an. Jetzt trennen ihn vielleicht noch sechs Meter vom Westen.
Einer der NVA-Soldaten stößt mit einem Schraubendreher den Schlüssel herunter, Kruse kriecht unter die Raupe, um ihn aufheben – der zweite Soldat beobachtet derweil durch sein Fernglas die Männer im Westen.
Jetzt oder nie: Kruse springt hinter der Raupe hervor und ist mit wenigen Sätzen im Westen. Puhle nimmt seine Pistole in Anschlag. Reflexartig reißt auch einer der NVA-Soldaten sein Gewehr in die Höhe, erkennt aber sofort, dass er nichts mehr ausrichten kann. Kruse hat den Feldweg im Westen überquert und verschwindet hinter einem Wall – dahinter rennt er weiter und immer weiter.
Die NVA-Soldaten verstecken sich hinter der Raupe und machen Meldung. Und sie nutzen die Zeit, um sich auf einen Tathergang zu verständigen, der sie beide möglichst gut aus der Geschichte herauskommen lässt. So werden sie später der Stasi berichten, sich hätten zwischen der Raupe und der Grenze gestanden, um eine Flucht unmöglich zu machen. Sie sei nur geglückt, weil auf der Westseite vier Personen mit durchgeladenen Waffen gestanden hätten.
Puhle schickt seinen Posten hinter Kruse her, lässt den Wagen wegfahren und macht sich gemäßigten Schrittes langsam auf den Rückzug.
Innerhalb von zwei Wochen ändert die DDR die Dienstvorschriften, um zu verhindern, dass sich eine solche Flucht wiederholt. Offensichtlich ist, dass nicht nur den Soldaten vor Ort, sondern auch den Dienststellen Fehler unterlaufen sind. Nie hätte Kruse, ein junger, lediger Mann, mit der Arbeit unmittelbar an der Grenze beauftragt werden dürfen.
Kruse wird am BGS-Standort Goslar eingekleidet, kommt ins Aufnahmelager nach Helmstedt und schließlich ins Übergangslager nach Gießen. Jahre später steht er wieder vor dem Kasernentor in Goslar, will Kontakt zu seinem Lebensretter aufnehmen und sich bedanken. Doch die Wache schickt ihn weg – Nachrichten, die er für Puhle hinterlegt, erhält dieser nie.
Umgekehrt lässt das Erlebnis auch Puhle nicht ruhen. Nach Schließung des Standorts sucht er im Staatsarchiv in Hannover die dort eingelagerten Unterlagen über den Fall heraus und bekommt von Kruses Eltern dessen Telefonnummer in Hamburg. Beide verabreden sich zu einem Treffen an der Grenze zwischen Wiedelah und Wülperode – dort, wo vor nunmehr 41 Jahren die Flucht gelang.
Als ich dorthin zurückgekommen bin, ist mein Herzschlag in die Höhe gegangen“, erinnert sich Kruse. Ihm fällt ein, dass er nie Angst hatte, es könne jemand zu Schaden kommen. „Ich habe geglaubt, die werden schon nicht schießen.“ Puhle hat da seine Zweifel. „Wenn denen die Nerven durchgegangen wären oder die schneller gewesen wären, und ich in deren Rohrmündungen geguckt hätte . . .“, sagt er und spricht den Gedanken nicht zu Ende. Das, was am 13. November 1973 alles hätte schief gehen können, mag er sich nicht ausmalen.